München – Wann gibt es das schon mal, dass (fast) die ganze Welt aufmerkt? Weil etwas geschehen ist, dass eine gemeinsame Empfindung auslöst über die konfessionellen, ethnischen, ideologischen Grenzen hinweg?
Das war so, als Lady Diana 1997 in einem Pariser Tunnel bei einem Unfall ums Leben kam. Das war so, als es am Abend des 25. Juni 2009, an dem in den westlichen Städten die ersten Feste eines unbeschwerten Sommers gefeiert wurden, ein Promi-Internetportal meldete: Michael Jackson ist tot. Und es fühlte sich wieder so an, als am 25. November die Nachricht um die Welt ging: Diego Maradona lebt nicht mehr.
Drei Ikonen, die weit über ihr ursprüngliches Feld hinaus Wirkung erzielten, die bis in die hinterste Ecke des Globus bekannt waren und deren Ende erleuchtet wurde vom Blaulicht der Rettungsfahrzeuge. So war es auch vor Diego Maradonas Haus nahe Buenos Aires, wo nach Eingehen des Notrufs neun Ambulanzen vorfuhren – als könnte ein letzter gigantischer Aufwand rückgängig machen, was unwiderruflich war. Diego Maradona war im Alter von 60 Jahren an akuter Herzinsuffizienz und einem daraus resultierenden Lungenödem gestorben.
Ab dem Moment, als sein Ableben bestätigt war, gehörte Maradona seinem Land, seinem Volk. Noch in der Nacht wurde sein Leichnam in den Präsidentenpalast gebracht, wo er sich mit der Nationalmannschaft 1986 mit dem WM-Pokal gezeigt hatte. Argentinien geht nun für drei Tage in Staatstrauer, es wird ein Staatsbegräbnis geben am nächsten Donnerstag, bis dahin werden noch so viele Menschen wie nur möglich versuchen, vor dem aufgebahrten Körper ein letztes Mal eine Ehrerweisung abzugeben. Inmitten der Corona-Pandemie wird das für die Argentinier eine Herausforderung sein, all die Emotionen zu koordinieren. Es war schon schwierig gestern vor dem Palast, wo sich Zehntausende versammelten, um Totenwache zu halten.
Am Mittwochabend fanden in Europa Spiele der Champions League statt, als sie angepfiffen wurden, war die Todesnachricht aus Buenos Aires gerade dreieinhalb Stunden alt. Der Fußball schaltete sofort in den Trauermodus, in München wurde „Don’t Cry for Me, Argentina“ gespielt, das ist der nahe liegende Titel aus dem Musical „Evita“, durch das man hierzulande erfuhr, wie in Argentinien einst um die Präsidentengattin Eva Peron getrauert wurde. Sie hatte in Lateinamerika großen politischen Einfluss ausgeübt – durch ihren Mut und ihr Charisma. Sie wurde zur Nationalheiligen – und Maradona hat diesen Status ebenfalls. Trotz aller Anfechtbarkeit durch seine Skandale. Doch man hat ihm jeden nachgesehen. Er genoss ein Sonderrecht: Er war Künstler. So drückt es Franz Beckenbauer gegenüber Sport1 aus: „Er war ein Tänzer.“
Man hat ihn oft auch in Deutschland auftreten sehen. Er war ja nicht weit weg in seiner großen Zeit beim SSC Neapel. Im Europacup verzauberte er in den 80er-Jahren das Publikum von FC Bayern und VfB Stuttgart, auch das des Hamburger SV durfte ihn erleben, der Verein hatte zu seinem 100-Jährigen Neapel engagiert (und gewann 3:2).
Die Deutschen, die so sehr das Gegenteil von ihm selbst waren, wurden zu Maradonas Trauma. Zwar gewann er gegen sie im Finale von 1986 die Weltmeisterschaft, doch wurde in anderen Spielen oft gut bewacht: Lothar Matthäus, Hans-Peter Briegel, Guido Buchwald, auch der junge FC-Bayern-Spieler Hansi Flick – sie alle wuchsen an der Aufgabe, dem Genialen für eineinhalb Stunden Grenzen aufzuzeigen.
Für die Bundesliga wäre er zu groß gewesen, einmal aber trug er das Bayern-Trikot: 2000, bei der Abschiedsgala von Lothar Matthäus. Maradona, da schon nicht mehr aktiv und fast 40 Jahre alt, weitete das Trikot gut aus. Doch gerade weil er ohne jede Athletik und Ausdauer spielte, zeigte sich, was Genius zu leisten vermag. Maradona spielte fantastisch.
So wie er damals, körperlich ein Wrack, schon angefasst vom Kokainkonsum, von Aufputschmitteln, vom Alkohol, der Fettsucht, für eine Stunde wieder auferstand, so hatte man das später auch erhofft: Könnte er nicht ein großer Trainer werden oder wenigstens ein gesunder, vitaler Mensch, eine stabile Persönlichkeit? Gebannt verfolgte die Welt die fortwährende Diego-Show: den Kreislauf aus Entziehungskuren, neuen Jobs, Entlassungen, Partywahn, Suff, Entzug, trocken sein, abstürzen. Je klarer wurde, dass diese Geschichte kein Happy End haben würde, desto fester klammerten sich alle an das Bild des Spielers Diego. Das wird nun auf Häuserfassaden, auf Shirts und Masken, auf Fahnen und Transparenten zu sehen sein: Das prägende Bild von Maradona ist das als junger Mann zwischen 20 und 30, weich die Gesichtszüge, wallend das Haar.
Ähnliche Dimensionen wie in Argentinien hat die Maradona-Verehrung in Neapel. Das war sein Verein. Die Geschichte, dass der beste Spieler des Planeten sich für einen Club entscheidet, der eigentlich keine Perspektive zu bieten hat, gäbe es heute, wo von Staatsfonds und Firmen finanzierte Vereine den Markt zu beherrschen versuchen, nicht mehr. Maradona hatte 1984, da als schwierig bekannt, zwar nicht allzu viele Optionen, doch seine Entscheidung für das impulsive Neapel war ein Akt der Fußballromantik. Kein Weltstar hat sich je eine größere Mission vorgenommen – und sie erfolgreich gestaltet. Zwei Meistertitel mit dem SSC waren ein epochaleres Werk, als es zehn mit einem der reichen Clubs gewesen wären.
„Ho visto Maradona“, so hieß der Schlager in Neapel, die Fans sangen ihn, die Mannschaft in der Kabine, auch der Besungene selbst. Zwar endete seine Zeit beim SSC im Streit, doch die Retrospektive filtert nur das Schöne heraus,
„Ho visto Maradona“, ich habe Maradona gesehen. Das kann eine Definition von Glück sein: jemanden leibhaftig erlebt zu haben, nicht nur medial. Lady Di, Michael Jackson, auch Muhammad Ali, Nelson Mandela. Die großen Marken.
Maradona kann man nun nicht mehr sehen. Eine Geschichte ist zu Ende. Trauer allerorten.