Der Blick auf die Tabelle der Fußball-Bundesliga gleicht momentan einer kleinen Zeitreise: 20 Jahre zurück in die Vergangenheit. Um die Jahrtausendwende grüßte Bayer Leverkusen regelmäßig von Platz eins. Mit der Einschränkung: nie nach dem 34. Spieltag. Immer wieder wurde die Werkself noch von erfahrenen Titeljägern eingeholt.
Mal von Borussia Dortmund in der Saison 2001/02 oder 1999/2000 vom FC Bayern mit der legendären Bayer-Pleite am letzten Spieltag in Unterhaching. Meilensteine in der Evolution von Bayer 04 Leverkusen zu Vizekusen. Ein Begriff mit eigenem Wikipedia-Eintrag, die Muttergesellschaft Bayer AG hat sich das unrühmliche Pseudonym sogar als Markenzeichen schützen lassen. Scheint, als hätten alle Seiten ihren Frieden mit dem Terminus gemacht. Doch es gibt Hinweise, dass der Tabellenführer diese Saison mehr ist als der personifizierte Zweitbeste.
Vor 20 Jahren stand Bayer für Offensiv-Spektakel. Paulo Sergio, Ze Roberto, Michael Ballack – alles Weltklasse-Offensivstrategen. Und selbst Abwehrspieler wie Lucio hielt es kaum in der eigenen Hälfte. Aktuell hat die Mannschaft mit Leon Bailey oder Lucas Alario zwar wieder herausragende Angreifer, aber das Prunkstück des Teams ist die Abwehr. Mit gerade einmal zehn Gegentoren stellt das Team die zweitbeste Defensive der Liga. Und eine alte Sportler-Weisheit besagt: Die Offensive gewinnt Spiele, die Defensive gewinnt Meisterschaften.
Auch abseits des Spielfeldes fährt der Verein inzwischen eine andere Strategie. Hatten einst Lautsprecher wie Klaus Toppmöller, Christoph Daum oder Reiner Calmund das Sagen, vertraut man aktuell auf leisere Repräsentanten. Angefangen beim Trainer Peter Bosz über Simon Rolfes als Direktion Sport bis zum Vorsitzenden der Geschäftsführung Fernando Carro. Einzig Rudi Völler ist aus den Gründungsjahren des Vizekusen-Etiketts noch an Bord. Doch auch der Weltmeister von 1990 poltert nur noch in Ausnahmefällen.
Am Samstag wartet auf den Spitzenreiter die erste richtige Bewährungsprobe. Dann kommt der FC Bayern. Vieles spricht für ein wirkliches Duell auf Augenhöhe. Womöglich bedarf es für Bayer genau diese besondere Pandemie-Zeit, um ein 20 Jahre alte Vorurteil begraben zu können.
Und aus Vizekusen wird tatsächlich der Corona-Meister.
Daniel.Mueksch@ovb.net