Im zweiten Leben Extremsportler

von Redaktion

Rüdiger Böhm verlor bei einem Unfall beide Beine und kämpfte sich Schritt für Schritt zurück

München – Es sind nur wenige Sekunden. Sekunden, die das Leben von Rüdiger Böhm auf den Kopf stellen – ja eigentlich sogar kurzzeitig zerstören. Am 21. April 1997 will der Sportstudent sein neues Fahrrad testen – „einfach ein bisschen rollen und die Sonne genießen.“ Böhm fährt Richtung Eberstadt, eine Gemeinde im Landkreis Heilbronn. Plötzlich hört er ein dumpfes Geräusch, das immer lauter wird. Von hinten nähert sich ein Lkw, übersieht Böhm, gibt dem Radler einen heftigen Stoß. Ein Stoß, der den damals 27-Jährigen aus dem weitgehend unbeschwerten Studentenleben reißt.

Der Lkw überrollt Böhm mit dem rechten Vorderrad. Der Überfahrene bleibt bei vollem Bewusstsein, richtet sich auf und blickt auf die Nachwirkungen der Kollision. Der linke Unterschenkel liegt 90 Grad abgewinkelt zum Rest des Beins, aus dem rechten Oberschenkel schießt das Blut. Für einen Transport mit dem Helikopter ist der Kreislauf zu schwach. Das Unfallopfer wird ins Städtische Klinikum in Darmstadt gefahren. Über zehn Stunden kämpfen die Ärzte um das Überleben des Patienten. „Er wird die Nacht nicht überstehen“, sagte ein Doktor damals den wartenden Freunden. „Das Leben hat mir die Handbremse gezogen“, sagt Böhm.

Schon als Kind hatte er jede freie Minute mit Sport verbracht. Begeistert von dem Buch „Im Tretboot über den Atlantik“ des – im April diesen Jahres verstorbenen – Survival-Experten Rüdiger Nehberg erlebte Böhm seine eigenen Abenteuer an Seen im Odenwald. 1991 begann er ein Studium der Sportwissenschaften in Darmstadt. Nebenbei trainierte der Sportenthusiast ein Nachwuchsteam beim SV Darmstadt 98, war Bereichsleiter eines Fitnessstudios und Kursleiter beim Hochschulsport. Böhm ließ sich treiben, hatte keinen festen Plan. Außer, dass der Sport immer im Vordergrund stehen sollte.

Böhm war fasziniert vom Triathlon, Darmstadt war und ist eine Hochburg für diese Sportart. Laufen und schwimmen gehörten ohnehin zur Wochenroutine eines Sportstudenten. Was fehlte? Ein Rennrad! Böhms Studienkollege Eckhard jobbte damals im Laden der Radlegende Rudi Altig und besorgte seinem Freund ein passendes Bike.

Doch der erste Ausflug wurde dann an jenem Frühlingstag im April 1997 gleich zur Schicksalsfahrt. Der Athlet lag plötzlich ohne Beine da. Und das im Alter von 27 Jahren.

Nach dem Unfall liegt Böhm 30 Tage im Koma, muss künstlich ernährt werden. 30 Tagen Koma folgen 30 Wochen im Krankenhaus. Wie man so was wegsteckt? „Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken. Ich war damit beschäftigt zu überleben.“ Böhm will sich alles vom Leben zurückholen. Doch der Kampf beginnt in kleinen Schritten. Dass er im Krankenhaus nicht mehr auf „diese komische Schüssel im Rollstuhl“ muss, sondern es mit den Prothesen auf die Toilette schafft, wird als Erfolg verbucht. Nach der Zeit im Krankenhaus und der Reha fängt Böhm eine Stelle als Sporttherapeut, und absolviert an der Sportschule Hennef die Fußballtrainer A-Lizenz. Dort lernt er den damaligen Nachwuchschef vom Karlsruher Sportclub, Marco Pezzaiuoli, kennen und arbeitet fortan beim KSC. 2006 nimmt Böhm erfolgreich am Lehrgang zum Fußballlehrer teil, wird zum einzigen Trainer ohne Beine mit der höchsten UEFA-Lizenz.

Aber der Fußball erfüllt Böhm nicht mehr. Er will sein zweites Leben auskosten, seine Grenzen kennenlernen. Der heute 50-Jährige meldet sich für die „7 Summits Strategie Coaching-Ausbildung“ von Steve Kroeger an, wird zudem Diplom-Mentaltrainer.

2013 nimmt der Hesse an der Camp David Challenge teil, eines der härtesten Ultra-Cycling-Rennen in der Schweiz. Böhm verfährt sich, ist drei Stunden lang in die falsche Richtung unterwegs. Das Ziel Schaffhausen erreicht der Sportler nach 34 Stunden und 8000 überwundenen Höhenmetern. „Es war extrem herausfordernd. Körperlich presst so eine Tour alles aus dir raus.“ Doch für Böhm ist das Rennen auch ein Beweis. Er kann es noch, 16 Jahre nach dem Unfall vollbringt er wieder sportliche Höchstleistungen.

Fortan hält er Vorträge, gibt Seminare als Motivationscoach. Und ist immer auf der Suche nach neuen Herausforderungen. 2017 initiiert Böhm das Projekt „Follow the River.“ Gemeinsam mit einem Freund paddelt der Extremsportler mit dem Kajak von Meiringen über 1250 km bis nach Rotterdam und anschließend mit dem Handbike wieder 1000 km zurück nach Thun – 33 Tage benötigt das Duo für den Trip.

In Sommer diesen Jahres segelte Böhm unter dem Motto „No legs – no limits“ (keine Beine – keine Grenzen) mit Lars Kyprian auf einem Katamaran übers Mittelmeer von Gibraltar entlang der europäischen Küste Richtung Palermo. „Die Bedingungen waren teilweise brutal und extrem. Der Wind schlägt dir mit voller Wucht ins Gesicht“, sagt Böhm. In Italien wurden die Segler aufgrund der Corona-Bestimmungen nicht reingelassen. Doch ein großer Rückschlag war das nicht. „Das Loslassen ist extrem wichtig“, sagt Böhm. Das vermittelt er auch in seinen Seminaren, „ich kann mich nicht über alles ärgern. Ich versuche aus den gegebenen Umständen immer das Optimale rauszuholen.“

Im Darmstädter Klinikum wurde Böhm von den Ärzten in der Nacht auf den 22. April 1997 schon aufgegeben. Während der Operation wurde er achtmal mit komplett neuem Blut versorgt, 130 Konserven gingen drauf. Vom Unfallopfer zum Extremsportler. Wie man aus einer schwierigen Situation das Optimale rausholen kann? Vielleicht mal bei Rüdiger Böhm nachfragen.

NICO-MARIUS SCHMITZ

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