Wer uns begeisterte – und wer uns ärgerte

von Redaktion

Sportbilanz 2020: Mancher glänzte auch ohne Titel, andere enttäuschten trotz ihrer Erfolge

TOPS

Leon Draisaitl: Er ist kein aufregender Typ, prahlt nicht mit seiner kanadischen Schauspieler-Freundin, stellt bei seinen Social-Media-Aktivitäten den Hund in den Mittelpunkt, macht kein Aufheben um die eigene Person, sondern trainiert einfach wahnsinnig gerne. Eishockeyspieler Leon Draisaitl lässt die Leistungen sprechen, die er im Dienst der Edmonton Oilers erbringt. In der NHL, der Liga der Besten, stand er auf Platz eins der Scorer, er wurde mit Trophäen überhäuft. Das Jahr 2020 war auch die Geschichte seiner Emanzipation von Connor McDavid. Bislang hieß es, Draisaitls Punktekonto werde auch durch die Sturmlinien-Partnerschaft mit dem Kanadier gefüllt. Seit einer längeren Verletzungspause von McDavid stürmen sie getrennt. Und Draisaitl punktet noch stärker.

Tim Stützle: The Next Draisaitl? So sehen ihn die Ottawa Senators, die ihn im NHL-Draft, als sie als dritter Club an die Reihe kamen, auswählten. Mit 17 kam er in Mannheim in die DEL-Mannschaft, er trug das für Jugendliche vorgeschriebene Gitter vor dem Gesicht und spielte neben Leuten, die eine Karriere in der NHL gehabt hatten, doch Trainer Pavel Gross sagte: „Tim macht Sachen auf dem Eis, für die die anderen noch nicht bereit sind.“

Johannes Vetter: Er war nah dran. Nur 72 Zentimeter fehlten Johannes Vetter zum Speerwurf-Weltrekord. Sein bärenstarker Wurf über 97,76 Meter in Chorzow Anfang September schaffte es als neue deutsche Bestmarke dennoch in die Geschichtsbücher. Bei Olympia 2021 in Tokio soll der nächste große Coup folgen: „Das Ziel ist eine Medaille, am besten natürlich Gold“, sagte Vetter.

Erling Haaland: Als Fußball-Reporter hat man viele Fußballspiele und damit auch viele Fußballer gesehen. Wenn aber selbst erfahrene Kollegen sagen: „Den musst du mal live gesehen haben“, weiß man, hier geschieht etwas Besonderes. Der Dortmunder Erling Haaland erfüllt die Arenen mit einer Energie, die man sonst vergeblich sucht. Und das mit gerade einmal 20 Jahren. Das Naturschauspiel aus Norwegen in der Bundesliga sollten wir noch so lange genießen, wie wir es können.

Hansi Flick: Es war eine Randnotiz, als die Bayern den ehemaligen Löw-Assistenten im Mai 2019 als Sidekick für ihren Trainer Niko Kovac verpflichteten. Der brave Hansi, mal wieder loyaler zweiter Mann. Bis er nach vorne musste und von der Übergangs- zur perfekten Lösung wurde. Triple-Trainer, von allen geschätzt und geliebt. Die Frage ist nur: Wie konnte er so lange unter dem Radar bleiben?

Thomas Müller: Für Joachim Löw war die TV-Analyse in diesem Corona-Jahr meist nicht besonders erfreulich. Denn wann immer Thomas Müller wieder ein Tor vorbereitete oder gar selbst traf, wusste der Bundestrainer, dass die Diskussion um eine mögliche Rückkehr des eigentlich aussortierten Bayern-Stars ins DFB-Team neu befeuert wird. Der 31-Jährige stellte seine Topform Woche für Woche unter Beweis: 14 Tore und 26 Vorlagen sind aus der Saison 2019/20 erfasst, auf bereits neun Treffer und zehn Assists kommt Müller in der laufenden Spielzeit. Blöd für Löw, gut für die Bayern.

Robert Lewandowski: Die persönliche Krönung war mehr als verdient. Wer fünf Titel gewinnt und sowohl in der Liga als auch im Pokal sowie der Champions League die meisten Tore schießt, ist zurecht Weltfußballer. Der Pole steht stellvertretend für den historischen Erfolg des FC Bayern im Corona-Jahr 2020. Wer Lewandowski aber kennt, weiß, dass er sich nicht ausruhen wird. Erst einmal aber steht eine Einladung an die Teamkollegen aus. Alle sollen anstoßen: Auf und mit dem besten Kicker der Welt!

Max Kruse: Der etwas andere Fußballer. Nicht immer topdiszipliniert, aber dem Spiel verbunden. Entschied sich bei der Vereinswahl für Union Berlin, weil er den Club für besonders cool hält.

Die Rodel-Mamas: Der Plan war ambitioniert, aber wer Natalie Geisenberger kennt, konnte sich sicher sein: Er ist realistisch. Geburt von Sohn Leo im Mai, Comeback im Rodel-Weltcup am 28. November. Mit Platz zwei in Innsbruck-Igls meldete sich die Olympiasiegerin zurück – und stand damit ein Podium weiter oben als Teamkollegin Dajana Eitberger. Die Olympiazweite von Pyeongchang war ebenso 2020 Mama geworden, Söhnchen Levi kam im Februar zur Welt. Längst ist das Duo wieder das Maß aller Dinge im Eiskanal. Wie ist das möglich? Die Antwort: Mama-Gefühle beflügeln – und Ehrgeiz wird belohnt.

Felix Loch: Wenn jemand wie der Hackl-Schorsch vom „besten Felix aller Zeiten“ spricht, muss man hellhörig werden. Und so wurde der erste Weltcup-Start des einstigen Rodel-Dominators Felix Loch heuer noch ein wenig mehr beäugt als sonst. Zwei Jahre zum Vergessen hatte der 31-Jährige bekanntlich erlebt, die Rückkehr an die Weltspitze aber gelang – wie von Hackl prognostiziert – im Corona-Jahr in beeindruckender Manier. Fünf Siege aus fünf Rennen stehen zum Jahreswechsel für den Berchtesgadener zu Buche. Über den Favoriten bei der WM 2021 am Königssee muss man nicht reden.

Francesco Friedrich: Der Doppel-Olympiasieger ist seit Jahren das Maß aller Dinge im Bobsport. 2020 holte der 30-Jährige seine WM-Titel Nummer zehn und elf – und ist nunmehr zusammen mit dem legendären Eugenio Monti Rekord-Weltmeister.

Kevin Krawietz/Andreas Mies: Eine alte Sportlerweisheit besagt: Nach oben kommen ist nicht schwer, oben bleiben dafür umso mehr. Folglich ist die Titelverteidigung des deutschen Doppels bei den French Open höher zu bewerten als ihr Triumph 2019. Dabei reiste das Duo zum in den Herbst verschobenen Turnier nicht einmal als Favorit. Zuvor setzte es immer mal wieder eine Niederlage, so dass kaum jemand an einen erneuten Paris-Triumph glaubte. Außer dem Münchner Krawietz und dem Kölner Mies. Besonders nachdem sie im Achtelfinale drei Matchbälle abgewehrt hatten. „Ein Weckruf zur richtigen Zeit“, gab Kevin Krawietz zu.

Mick Schumacher: Er ist 2020 Formel-2-Weltmeister geworden. Aber noch mehr als dieser Titel beeindruckt, wie der 21-Jährige sich über Jahre hinweg gegen Vorurteile und Schicksalsschläge zur Wehr gesetzt hat. Viele Experten sahen in seinen Rennfahrerambitionen nicht mehr als einen PR-Gag der kriselnden Formel 1. Mit dem Namen Schumacher sollten verloren gegangene Fans wieder aktiviert werden. Ob das gelingt? Wird sich zeigen. Mick startet ab der nächsten Saison auf jeden Fall für den Haas-Rennstall in der Königsklasse. Die Vergleiche mit Vater Michael werden in jeder Kurve mitfahren. Aber diesen 21-Jährigen scheint so schnell nichts aus der Bahn zu werfen.

FLOPS

Joachim Löw: Sarkastisch könnte man sagen: Immerhin durfte er seinen Job behalten. Hat die Nationalmannschaft seit Längerem nicht mehr begeistert, erreichte die Stimmung nach dem historischen 0:6 in Sevilla gegen Spanien ihren Tiefpunkt. Selbst beim Diskutieren der Personalie Löw stellte sich eine gewisse Müdigkeit ein. So richtig holt das Nationalteam keinen mehr hinter dem Ofen hervor – selbst wenn es Empörungspotenzial verspricht. Die eher mageren Erklärungsversuche von Löw nebst fehlender Selbstkritik wurden von der deutschen Fußball-Seele eher stoisch als hysterisch aufgenommen. Löw darf also weiter die Geschicke der deutschen Elitekicker leiten. Mindestens bis nach der EM im nächsten Jahr. Vielleicht regen wir uns dann (endlich) mal wieder so richtig auf.

David Alaba: Sportlich gab es kurz vor dem Jahresende noch mal eine Bestätigung: Zum siebten Mal wurde der Bayern-Verteidiger zu Österreichs Fußballer des Jahres gewählt. Trotzdem liegt ein Schatten über Alabas Jahr 2020 – weil neben dem Platz so viel passiert ist. Die Posse um seine Vertragsverlängerung begleitete den 28-Jährigen und seinen Club kontinuierlich, bis es im Herbst knallte. Finanzen, Laufzeit, Wertschätzung – nichts passte. Das Angebot wurde zurückgezogen, ein Abgang 2021 ist so gut wie sicher.

Leroy Sané: Es dauerte und dauerte, bis er endlich da war. Anfang Juli aber machte der FC Bayern seinen „Königstransfer“ fix. Rund 50 Mio. Euro wurden an Manchester City überwiesen – seit seinem Debüt im September begleitet Sané die Frage: War er diesen Batzen Geld wert? Der Start beim 8:0 gegen Schalke war furios, aus dem 24-Jährigen und seinem Flügelpartner Serge Gnabry wurde in Anlehnung an das langjährige Erfolgsduo „Robbery“ schnell „Sabry“. Seitdem aber hinkt Sané seinem Potenzial weit hinterher. Karl-Heinz Rummenigge stellte eine neue Frage in den Raum: Fehlt Sané das Bayern-Gen?

Jürgen Klinsmann: Aus der alten Dame Hertha sollte der Wahl-Kalifornier auf Geheiß von Investor Lars Windhorst einen „Big City Club“ machen, der in der ersten Riege der europäischen Vereine mitspielt. Noch desaströser als seine sportliche Bilanz in der Hauptstadt war sein Abgang. Mit Facebook-Live-Fragerunden und im Boulevard veröffentlichten Tagebüchern. 76 Tage dauerte das Missverständnis. Ob der Schwabe in Deutschland nach seinem Hertha-Fiasko noch einen Arbeitgeber im Profi-Fußball finden wird, erscheint fraglich. War sein Erfolg als Bundestrainer beim Sommermärchen 2006 die Ausnahme? Sein wahres Leistungsvermögen als Trainer zeigte sich erst in den nächsten Jahren danach.

Fritz Keller und der DFB: Da kommt einer, der keine Macht will, der nicht verführbar ist, der im Verband aufräumen wird – so stellte man den Freiburger Winzer vor, als er fürs Amt des DFB-Präsidenten kandidierte. Er selbst sagte bei seiner Antrittsrede, das Wohnmobil für Reisen mit seiner Frau habe er sich umsonst gekauft. Hätte er wohl mehr Zeit damit verbracht. Keller ist nach Reinhard Grindel eine weitere Fehlbesetzung. Er sieht es nur noch nicht ein und hat eine Imagekampagne in Auftrag gegeben.

FC Schalke 04: Stand vor zwölf Monaten drei Punkte hinter den Bayern – und gewann dann nur noch ein Bundesliga- und zwei Pokalspiele. Der Rest: Sportliche, finanzielle, personalpolitische Tristesse. So hat sich noch kein stolzer Club zerlegt.

Sebastian Vettel: Die Formel-1-Saison 2020 sollte die Beziehung von Sebastian Vettel und Ferrari zu einem versöhnlichen Abschluss bringen. Vielleicht sogar mit der Chance, Abo-Weltmeister Lewis Hamilton vom Thron zu stürzen. Jedoch wurde früh klar: Der Deutsche bleibt bei den Italienern ohne WM-Titel. Die Liaison von Vettel und Ferrari geht als Missverständnis in die Motorsport-Geschichte ein. Wahrscheinlich ist der Heppenheimer eher der Fahrer, der kleinere Teams aus der Außenseiterrolle nach vorne bringt, als ein Traditionsflaggschiff zu führen. 2021 kann der 33-Jährige diese Annahme bei Aston Martin unter Beweis stellen. Waren seine herausragende Jahre bei Red Bull der Ausrutscher? Oder die Zeit bei Ferrari? Bisher gibt es Beweise für beide Theorien . . .

Angelique Kerber: Mit ihren Grand-Slam-Titeln in Wimbledon (2018), den US Open und Australian Open (beide 2016) hat die beste deutsche Tennisspielerin Maßstäbe gesetzt, an denen sie bis zum Ende ihrer Karriere gemessen werden wird. Dieses Jahr lief für die Kielerin allerdings äußerst mäßig: Sieben Siege, sechs Niederlagen. Zu wenig für eine Athletin, die schon einmal die Nummer 1 der Welt war und dabei selbst Serena Williams in die Schranken wies. Allerdings auch nicht ungewöhnlich. Bei der 32-Jährigen geben sich seit jeher große Erfolge und bittere Enttäuschungen die Klinke in die Hand. Daher reservieren wir schon einmal einen Platz in den Tops 2021 für sie.

HANNA RAIF, DANIEL MÜKSCH, GÜNTER KLEIN

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