Tokio – Inmitten von Pandemie und Lockdown läuft aktuell in Japan ein großes Sumoturnier, obwohl mehrere Ringer mit dem Coronavirus infiziert sind. Das Turnier abzusagen, hätte auch für Olympia in Tokio Signalwirkung gehabt. Das wollten die Organisatoren der Spiele wohl vermeiden.
Sumoringer sind mächtige Erscheinungen, sie wirken, als könne ihnen nichts etwas anhaben. Bei diesen Kolossen sollte auch die Widerstandskraft gegen ein Virus enorm sein, könnte man vielleicht denken. Die schweren Männer sind schließlich – trotz ihrer Leibesfülle – Topathleten. Täglich trainieren sie stundenlang. In Japan, der Wiege dieses Sports, wirkt für die Einheimischen kaum ein Anblick erhabener als der eines Ringers im Mawashi, dem Gürtel aus Seide, den die massigen Ringer auf ihren nackten Körpern tragen.
Dieses Bild der Kraft zeigt sich auch dieser Tage wieder. Seit Montag läuft für zwei Wochen das „Tokyo basho“, eines der sechs wichtigen Turniere im Kalender der Sumo-Saison. Zwar steckt Japan seit Wochen in seiner dritten Infektionswelle der Corona-Pandemie, weshalb die Regierung am Donnerstag vergangener Woche auch einen erneuten Lockdown angeordnet hat. Menschen sollen abends zu Hause bleiben und Betriebe schließen. Aber die starken Sumo-Männer sollten trotzdem in den Ring, um sich zu messen. Und auf den Rängen der 11 000 Plätze fassenden Arena Ryogokukan im nördlichen Hauptstadtzentrum dürfen sogar 5000 Besucher dabei zusehen.
Doch der oberflächliche Eindruck der Unverwundbarkeit des Sumo täuscht. Kurz vor Turnierbeginn erklärte der nationale Sumoverband, dass diesmal 65 Ringer den Kämpfen fernbleiben müssen. Allein im Sumostall Arashio wurden Anfang des Monats zwölf Personen positiv auf das Coronavirus getestet. Im Rahmen einer Testkampagne aller Athleten, Trainer und Betreuer kamen noch einmal mehrere Ringer anderer Ställe hinzu. Allen voran fehlt beim aktuellen Turnier der Ringer Hakuho, der den Sport seit Jahren dominiert und letzte Woche erkrankte. Hakuho wurde gleich ins Krankenhaus eingeliefert.
So fragt man sich in Japan nicht nur, was ein Turniersieg bei einem derart dezimierten Teilnehmerfeld wert sein soll. Angesichts der gesundheitspolitischen Lage im Land drängen sich auch Zweifel auf, was die Sinnhaftigkeit des Events überhaupt angeht. Tatsächlich gilt dies für den Sport Sumo besonders. Denn auch wenn die Athleten körperlich fit sind, müssen ihre Organe schon wegen des großen Bauchumfangs der Ringer besonderen Druck aushalten. Vergangenes Jahr im Mai war der erste Profisportler, der an Covid-19 erkrankt war und starb, der Sumoringer Shobushi – im Alter von 28 Jahren. Als unmittelbare Todesursache wurde multiples Organversagen infolge einer Lungenentzündung angegeben.
Doch das Sumoturnier, um das es derzeit so viel Diskussion in Japan gibt, muss wohl auch deshalb stattfinden, weil alles andere ein schlechtes Signal bezüglich Olympia senden würde. Würde sich Sumo dem Coronavirus beugen, würde wohl auch die öffentliche Skepsis in Japan gegenüber den Spielen weiter steigen.
Inmitten des zweiten Lockdowns bleibt nur noch ein halbes Jahr, bis in Tokio die verschobenen Olympischen Spiele endlich starten sollen. Trotz der Restriktionen für das Alltagsleben der Menschen beteuern sowohl Japans Premierminister Yoshihide Suga als auch das IOC weiterhin: „Tokyo 2020“ werde wie geplant stattfinden. Man habe Vorkehrungen getroffen, um eine sichere Durchführung zu gewährleisten. Dazugehören soll eine dringende Empfehlung gegenüber den Athleten und Athletinnen, sich impfen zu lassen. Außerdem sollen Olympia-Touristen direkt vor und nach der Einreise nach Japan auf das Coronavirus getestet werden. Die ansonsten bei Olympischen Spielen üblichen Zusammenkünfte von Sponsoren, Amts- und Würdenträgerinnen und anderen wichtigen Personen sollen reduziert und die Ausgangs- und Partyregeln im Olympischen Dorf restriktiver werden. „Die Sicherheit hat oberste Priorität“, ist vom olympischen Organisationskomitee, an dem auch die Regierung beteiligt ist, immer wieder zu hören.
Nur verhält es sich mit Olympia wie mit dem derzeitigen Sumoturnier. Viele Menschen in Japan fragen sich: Muss das wirklich sein? Umfragen zu Olympia ergeben seit Monaten, dass eine Mehrheit der zunächst so Olympia-begeisterten Japaner äußerst misstrauisch geworden ist. Zuletzt ergab eine Umfrage durch die Nachrichtenagentur Kyodo am Sonntag, dass 80 Prozent der Bevölkerung kein Olympia im Sommer 2021 will. Die klare Mehrheit bevorzugt eine Verschiebung oder die komplette Absage.
Nachdem die Organisatoren im vergangenen Jahr wochenlang zögerten, bis sie die Verschiebung von Olympia beschlossen, haben viele Menschen in Japan das Gefühl, die planmäßige Durchführung der größten Sportveranstaltung der Welt sei über die öffentliche Gesundheit gestellt worden.
Dieses Gefühl hatte Anfang der Woche übrigens auch der 22-jährige Sumoringer Kotokantetsu in seinem Sport. Nach einer Herz-OP hatte er Bedenken gegenüber dem Verband angemeldet, was seine Teilnahme am Turnier in Tokio angeht. Er befürchte, eine Infektion mit dem Coronavirus könnte für ihn lebensbedrohlich werden. „Der Verband sagte: ‚Du kannst nicht dem Turnier fernbleiben, nur weil du Angst vor dem Coronavirus hast‘“, berichtete Kotokantetsu. Man habe schließlich Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Über Twitter erklärt der Ringer: „Ich hatte nur die Wahl, teilzunehmen oder zurückzutreten.“ Er hat den Rücktritt vorgezogen.