Frohnatur statt Pflegefall

von Redaktion

Michael Füchsle kämpfte sich nach schweren Operationen ins Leben zurück und klettert wieder

VON NICO-MARIUS SCHMITZ

München – Das Leben von Michael Füchsle stand auf der Kippe. Am 29. September 2005 bekam Füchsle unerträgliche Schmerzen, seine damalige Freundin brachte ihn ins Zentralklinikum. Die Diagnose: Darmdurchbruch mit absoluter Blutvergiftung. Es folgte eine Operation, in der Teile des Dickdarms und Dünndarms entfernt wurden. Füchsle lag anschließend 16 Tage im Koma, musste künstlich beatmet werden. Als der damals 38-Jährige wieder erwachte, folgte der große Schreck. Füchsle, der sich sein Leben bis dato mit dem Klettern finanzierte, konnte seine Finger nicht mehr bewegen und war ab dem Hals abwärts gelähmt: „Ich hatte mich damit abgefunden, dass ich den Rest meines Lebens im Rollstuhl bleiben muss. Mein Leben war nicht mehr lebenswert.“

Füchsle war schon im Alter von zehn Jahren von den Kletterern am Gimpel im Tannheimer Tal – ein Teil der Allgäuer Alpen – fasziniert. Die ersten richtigen Kletterversuche folgten mit zwölf Jahren in Konstein. Mit 13 gelang Füchsle gemeinsam mit seinem Vater die Überschreitung des Piz Palü in 18 Stunden. Ein Jahr später stand für den Jugendlichen fest, dass er mit seiner Leidenschaft auch Geld verdienen möchte. Die Schule wurde zum Leidwesen der Eltern abgebrochen, Füchsle brachte stattdessen einen Topo-Kletterführer über das Gebiet in Konstein auf den Markt.

Der erste Schock folgte mit 18, blutige Durchfälle bestimmten plötzlich den Alltag des Sportlers, die Diagnose: „Colitis ulcerosa“ – eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung. Füchsle bekam Medikamente, stellte seine Ernährung um. Nach einem halben Jahr konnte der Athlet seinen geliebten Sport wieder aufnehmen. Der gebürtige Bobinger sorgte durch Erstbegehungen bis zum zehnten Schwierigkeitsgrad – damals die zweithöchste Stufe – für Furore. Füchsle nahm an Wettkämpfen auf der ganzen Welt teil, brachte die Kletterzeitschrift „Onsight“ heraus und gründete die Bekleidungsfirma „CIAN.“

Doch schon 2003 verschlechterte sich der Gesundheitszustand drastisch. Die Ärzte erhöhten die Kortison-Dosis auf 100 Milligramm pro Tag. Doch die Medikamente konnten die Schmerzen nur für eine Zeit lindern. Bis zu jenem Tag im September 2005, dem insgesamt drei Operationen – unter anderem wurde ein künstlicher Darmausgang eingesetzt – und sechszehn Tage im Koma folgten. Die Ärzte hatten Füchsle vor der ersten Operation eine 50:50 Überlebenschance ausgerechnet. Den Eltern wurde mitgeteilt, dass sie sich auf einen Pflegefall einrichten müssen, falls ihr Sohn denn überhaupt überleben sollte.

Nach sieben Wochen im Zentralklinikum begann Füchsle eine Reha, wollte sich ins Leben zurückkämpfen. Der Macher, der mit 14 die Schule abbrach, um selbstständig zu werden, war plötzlich rund um die Uhr auf fremde Hilfe angewiesen. Der Patient musste von den Krankenschwestern gefüttert und gewaschen werden, erst nach drei weiteren Wochen konnte Füchsle wieder selbstständig essen.

Die Krankengymnasten tauften Füchsle „Kämpfersau“. Der Ehrgeiz, der ihn einst über die schwierigsten Routen am Felsen führte, half ihm jetzt, die Hoffnung nicht zu verlieren. Am 1. April 2006 wurde Füchsle entlassen und konnte erstmals nach sechs Monaten wieder seine Wohnung betreten. Die Freude hielt sich in Grenzen: Seine Ex-Freundin, die noch während seiner Zeit Krankenhaus Schluss machte, hatte jedes Zimmer leer geräumt: „Ich hatte nicht mal mehr ein Kopfkissen zum Schlafen.“

In den folgenden Jahren lernte Füchsle besser mit seiner Krankheit umzugehen, kam 2010 mit seiner aktuellen Freundin Marion zusammen. 2012 machte das Paar Urlaub im Bayerischen Wald und besuchte einen Baumwipfelpfad. Auf dem Parkplatz stand eine künstliche Kletterwand, Marion ermutigte ihren Freund doch mal vorsichtig eine Route zu versuchen. Erstmals seit 2003 hielt Füchsle wieder einen Griff fest, doch nach wenigen Momenten versagten die Unterarme: „Das war frustrierend. Die Technik war noch da, aber die Kraft komplett weg. Ich habe mich wie der letzte Anfänger gefühlt.“

Aber die Kämpfernatur gab nicht auf. Eine Firma fertigte Füchsle eine Bandage an, die als Sicherheit über dem künstlichen Darmausgang dient. 2014 erfährt Füchsle von Wettkämpfen für Kletterer mit Handicap, 2015 meldet er sich beim DAV an und bestreitet seinen ersten offiziellen Wettbewerb. Der Paraclimber feiert schnell Erfolge, wird 2016 bei der WM in Paris Fünfter und belegt ein Jahr später den zweiten Rang im Gesamtweltcup. Besonders begeisterten Füchsle die Klettergebiete rund um Meran: „Wir waren damals zur Apfelernte dort, das war ein einzigartiges Schauspiel.“ Auch heute absolviert der 54-Jährige noch fünf bis sechs Trainingseinheiten pro Woche. Beim Klettern muss er stark überhängende Felsen meiden, ansonsten könnte sich die künstliche Öffnung im Darm raus drücken – eine sofortige Notoperation wäre dann notwendig.

Mit dem Wettkampfklettern möchte Füchsle bald aufhören. Seiner großen Leidenschaft will er aber noch nachgehen „so lange ich lebe.“ Beim Klettern fühlt sich Füchsle frei. Jeder Zug am Felsen erinnert ihn daran, dass er sich trotz schwerer Krankheit ins Leben zurückgekämpft hat. Entgegen der Prognose der Ärzte.

Das Ziel für die Zukunft? „Noch mal eine Erstbegehung, ein schweres Felsprojekt über mehrere Wochen“, sagt Füchsle und hängt in Gedanken schon längst wieder an einem Felsen in der Nähe von Meran.

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