München – Acht Weltmeisterschafts-Teilnahmen in sieben Ländern, am Ende drei Einzelmedaillen (Silber, 2x Bronze) und Gold mit der Mannschaft: Felix Neureuther hat eine bewegte WM-Geschichte. Im Interview mit unserer Zeitung blickt der 36-Jährige zurück und voraus auf die heute beginnende Ski-WM. In Cortina d’Ampezzo werden die Helden dieses speziellen Winters gesucht.
Felix Neureuther, ist egs richtig oder falsch, dass die WM mitten in der Pandemie stattfindet?
Für den Skisport ist es wichtig und gut. Die WM findet in einer Blase statt, in die niemand von außen hineinkommt. Zudem findet Skifahren im Freien statt und im Weltcup gab es bisher zum Glück noch keinen großen Corona-Ausbruch.
Welche Bilder kann eine WM ohne Fans liefern?
Ganz ehrlich? Es ist schwierig, die Emotionen zu transportieren. Ich bin Sport-Junkie, ich schaue mir alles an. Aber derzeit fehlt etwas. Die Rennen in Schladming oder in Kitzbühel, das war Wahnsinn, auch die Fußballspiele sind Wahnsinn. Man denkt, dass man sich daran gewöhnt, aber das passiert nicht. Deswegen ist es wichtig, dass Thomas (Dreßen, d. Red.) mitfährt. Ob er etwas gewinnt oder nicht, ist zweitrangig, er bringt eine Geschichte mit. Sofia Goggia ist ein anderes Beispiel. Ihr WM-Aus ist dramatisch, das Mädel tut einem unfassbar leid, aber diese Dramen und Heldengeschichten schreibt nur der Sport.
Was trauen Sie Thomas Dreßen zu?
Ich glaube nicht, dass er den Super-G fährt. Die Strecke ist neu, niemand kennt sie außer den Italienern, und trotzdem müssen die Athleten ohne vorheriges Training ran. Das sehe ich sehr kritisch, auch mit Blick auf mögliche Verletzungen.
Und in der Abfahrt?
Thomas kann man immer alles zutrauen. Das hat er auch nach seiner Knieverletzung vor zweieinhalb Jahren bewiesen. Bei den Geschwindigkeitsmessungen gehört er immer zu den Schnellsten, er besitzt da eine geniale Gabe. Auch der Schnee in Cortina müsste ihm liegen. Egal, wie lange er verletzt war, er hat die Fähigkeiten, um Medaillen zu fahren.
Macht einen Edelmetall am Ende zum Helden?
Nein, Heldentum hat nichts mit Medaillen oder Auszeichnungen zu tun. Jeder, der etwas leistet, kann ein Held sein. Die Frage im Sport ist für mich, ob die Helden von heute noch die Ausstrahlung auf unsere Kinder, die Helden von morgen, haben.
Ihr neues Buch „Für die Helden von morgen“ handelt unter anderem davon. Was bereitet Ihnen Sorgen?
Die Wahrnehmung von Sport hat sich verändert. Kinder bewegen sich heute zu wenig und verlieren in der Breite das Interesse, die Stars nachzuahmen.
Ihr Held war Alberto Tomba, richtig?
Ich war begeistert von seiner ganzen Art, nicht nur von seinen Erfolgen. Auch Bode Miller, Herrmann Maier oder früher Franz Klammer, was waren das für Typen! Das Interessante im Skifahren ist, dass dein Fahrstil viel über deine Persönlichkeit aussagt. Früher gab es viele unterschiedliche Stile. Heute sieht vieles nach Schema F aus. Alle fahren gleich und alle geben die gleichen Interviews, keiner sagt mehr etwas.
Als Sie ein junger Kerl waren, gab es da schon so etwas wie Medientraining?
Ach geh, davon war ich weit entfernt. Ich habe mit 16 überhaupt mein erstes Handy bekommen. Die Sozialen Medien haben vieles verändert. Es wird früh darauf geschaut, dass die Außendarstellung makellos ist. Auch die Professionalisierung setzt zu früh ein. Ich war mit 15 das erste Mal Ende Oktober auf einem Gletscher beim Skifahren. Heute stehen die Zehnjährigen im Juli da oben. Wo sind wir denn angekommen? Das ist krass und deswegen verlieren wir da massiv die Breite. Viele Eltern und viele Kinder machen das nicht mit.
Zurück zur WM. Auch Linus Straßer hat lange gebraucht, um ganz oben anzukommen. Nach seinem Sieg in Zagreb waren die letzte Ergebnisse eher schwach. Haben ihn die Medien zu schnell zum Helden gemacht?
Ich denke, es hilft Linus, dass er nicht mehr auf einem absoluten Spitzenplatz gelandet ist, weil die Erwartungen wieder geringer sind. Wenn er seine Sachen beinander hat, kann er sehr schnell fahren. Ich bin nie ein Freund davon gewesen, vor Großereignissen von Medaillen zu sprechen. Aber wenn er seine Leistung abrufen kann, gewinnt er eine Medaille.
Ist Linus, von Überraschungsmann Dreßen mal abgesehen, der einzige Medaillenkandidat?
Die Speed-Herren sind schon auch stark, halleluja.
Wenn es auch oft nur knapp war, auf dem Stockerl stand in der Saison aber noch niemand.
Aber es kann definitiv passieren. Die Entwicklung der Jungs ist enorm, ich krieg gleich Gänsehaut, weil es so eine coole Mannschaft ist. Nur leider hat sich in Garmisch-Partenkirchen der Peppi Ferstl verletzt, das ist bitter. Trotzdem, eine große Chance ist, dass außer den Italienern keiner die Piste kennt, da spielt die Erfahrung eine noch größere Rolle und es kann viel passieren.
Warum sind die deutschen Damen so weit davon entfernt?
Maria (Höfl-Riesch) und Vicky (Rebensburg) haben viel überstrahlt. Und haben Sie sich mal die Startfelder bei Deutschen Meisterschaften angeschaut? Das ist gerade so eine zweistellige Anzahl. Wo soll der Nachwuchs also herkommen? Wir werden niemals mehr so stark sein wie zu Zeiten mit Katja Seizinger, Martina Ertl und Hilde Gerg. Kira Weidle hat großes Potenzial, aber ihr fehlt der Vergleich im Training. Und das Speed-Niveau an der Spitze ist sehr hoch. Im Slalom ist es noch extremer. Da gibt es sechs Mädels, die um die Medaillen fahren, der Rest ist 1,5 Sekunden weg.
Es fehlt also die Breite.
Ja, rein aus einer typischen Verbandsstruktur heraus, ist es sehr schwer an die Spitze zu wachsen, wenn du nicht die Masse hast, wie die Österreicher, Schweizer, Franzosen und Italiener. Mikaela Shiffrin hat es zum Beispiel nur geschafft, weil die Familie alles gestemmt hat. Auch Petra Vhlova hat ein komplett eigenes Team. Im deutschen Verband muss man sich Gedanken machen, ob man zukünftig nicht gezielt auf frühe Individualisierung setzt.
Spricht da ein zukünftiger Funktionär? Sie haben sich und Marcel Hirscher als Tandem in der FIS ins Gespräch gebracht…
Es ging mir weniger um mich. Aber es wäre wichtig, dass ehemalige Athleten integriert werden. Viele Funktionäre schauen auf sich und zu wenig auf die Athleten und den Sport.
Leider keine ganz neue Erkenntnis.
Die Struktur in den großen Sportorganisationen ist antiquiert, mein Vater hat Ähnliches schon 1992 in Albertville angesprochen. Es braucht wohl einen Super-GAU, dass alles aufgearbeitet wird. Da braucht man Geduld, die habe ich nicht.
Weil Sie Olympia ansprechen. Wie stehen Sie zu den Spielen in Tokio?
Wenn die Sicherheit gewährleistet werden kann, bin ich selbstverständlich total dafür, dass die Spiele stattfinden. Aber auf Teufel komm raus braucht man Olympia nicht durchdrücken. Eine Ski-WM ist leichter durchzuführen, aber bei Olympischen Spielen kommen Tausende Sportler und Betreuter aus aller Welt zusammen, das wird eine Herkulesaufgabe. Olympia muss sich insgesamt neu aufstellen. Corona wirkt wie in vielen Lebensbereichen auch hier wie ein Brennglas. Weniger wird mehr. Und das Thema Nachhaltigkeit wird vorrangig, ich hoffe, dass dann Peking 2022 das letzte Negativbeispiel bleiben wird.
Interview: Mathias Müller