München – In der Siegerliste der Fernfahrt Paris-Nizza stehen klangvolle Namen. Sie reichen von Jacques Anquetil über Eddy Merckx bis zu Miguel Indurain, Bradley Wiggins und Egan Bernal (Tour-Sieger allesamt). Max Schachmann (Berlin), Spitzenkraft des Rennstalls Bora-hansgrohe, gewann am Sonntag als erster Deutscher zum zweiten Mal dieses illustre Rennen. Im Interview mit unsere Zeitung erzählt der 27-jährige Berliner über die aufregende Schlussetappe, sein anstehendes Debüt beim Klassiker Mailand-San Remo, den Radsport in Corona-Zeiten und seine großen Ambitionen bei den Olympischen Spielen in Tokio.
Max Schachmann, Sie sind als Paris-Nizza-Sieger – wie im Vorjahr – mit einem spektakulären Erfolg in die Saison gestartet. Wie fühlt sich das an?
Extrem gut. Ich hatte ja nicht unbedingt damit gerechnet, dass ich gewinnen könnte. Für mich ist das ein bedeutender Schritt und gibt mir auch einen kräftigen Schub.
Nach dem Rennen war Ihnen im Internet vorgeworfen worden, Sie hätten auf den gestürzten Primoz Roglic, den Mann in Gelb, warten müssen. Sie selbst meinten zunächst, Sie verbänden mit dem Sieg gemischte Gefühle. Roglic erklärte unterdessen, er sei selbst schuld gewesen. Hat sich bei Ihnen inzwischen die ungemischte Freude eingestellt?
Sie kommt so langsam, ich kann mich zunehmend freuen. Primoz hat mir auch gleich nach dem Rennen gratuliert und gesagt, das sei sein Fehler gewesen. Er war ja schon auf der ersten Runde bei der Abfahrt gestürzt. Da hat das Feld noch auf ihn gewartet. Beim zweiten Sturz, wieder ein Fahrfehler, war die Situation unübersichtlich, vorne wurde Tempo gemacht, da musste ich einfach mitgehen.
Sie haben die traditionsreiche Fernfahrt Paris-Nizza ja schon 2020 gewonnen. Das war das letzte Profi-Rennen vor dem mehrmonatigen Lockdown. Wie sehen Sie ein Jahr später im Rückblick den Radsport in der Corona-Krise?
Das war vor allem in den ersten Monaten eine schwierige Zeit voller Ungewissheit. Solch eine Ausnahmesituation hatten auch Teamchefs, Trainer und Betreuer, die schon ganz lange im Geschäft sind, noch nicht erlebt. Zunächst wurden ja alle Rennen abgesagt, man wusste nicht, wie es weitergeht. Da war eine große Unsicherheit zu spüren. Doch inzwischen kann man sagen: Der Radsport ist noch ganz gut davongekommen.
Wie ergeht es Ihnen denn in diesem abgeschotteten Sportlerleben in der sogenannten Blase? Nervt das, oder gewöhnt man sich daran?
Das ist schon eine Umstellung. Vor allem die vielen Corona-Tests. Und ungewohnt ist auch, dass im Zielbereich keine Zuschauer sind, die Stimmung dort völlig fehlt. Aber es könnte schlimmer sein. Als Radsportteam befindet man sich sowieso meistens in einer Bubble, also der vorgeschriebenen Blase. Da ist man unter sich: Trainer, Koch, Physiotherapeuten, Fahrer. Das war bei uns zuletzt auch im dreiwöchigen Trainingslager in der Sierra Nevada so. Und was den Rennkalender 2021 betrifft, so stehen wir ohnehin wieder vor einer fast normalen Saison. Natürlich hoffe auch ich, dass man sich so schnell wie möglich wieder frei bewegen kann, die Fans zurückkommen. Ich muss aber auch sagen: Ich kann mit den Einschränkungen leben. Wir Radprofis sind froh, dass wir unseren Beruf ausüben können.
Glauben Sie, der Radsport hält noch ein ganzes Jahr unter Corona-Einschränkungen aus?
Davon bin ich überzeugt. Die Situation ist inzwischen eine ganz andere als noch vor einem Jahr. Damals ging alles noch drunter und drüber. Es war nicht klar, was auf einen zukommt. In der Zwischenzeit weiß man, was man zu tun hat. Der Radsport hat gezeigt, dass er die Problematik im Griff hat.
Es geht schon am Samstag mit dem nächsten großen Rennen weiter. Auf dem Programm steht Mailand-San Remo. Sie geben dort Ihr Debüt. Der Sieg bei Paris-Nizza hat gezeigt, dass Sie bereits in starker Form sind. Was rechnen Sie sich für den ersten Frühjahrsklassiker aus?
Nun, ich bin ein bisschen erkältet. Und ich fahre zum ersten Mal ein so langes Eintagesrennen: 299 Kilometer – das wird nicht einfach. Es kommt auch darauf an, wie man den Anstieg mit 160 Höhenmetern unweit von San Remo überwindet.
Eigentlich ein Profil, das Ihnen liegt…
Ja. Aber man muss sehen, wie viele da gut rüber kommen. Wenn sich ein Pulk von dreißig Mann bildet, wird’s schwer.
Sie sind ja ein Spezialist für die Frühjahrsklassiker. Letztes Jahr wurden Sie bei Lüttich-Bastogne-Lüttich starker Dritter. Werden Sie als Klassikerjäger unterwegs sein?
Definitiv. Die Klassiker gehören zu den wichtigsten Saisonzielen, die habe ich natürlich auf der Rechnung.
Und die Tour de France?
Die Tour reizt natürlich immer. Aber die Entscheidung darüber fällt erst nach den Ardennen-Klassikern. Das ist mit der Teamleitung von Bora-hansgrohe so abgemacht. Denn die Tour kollidiert diesmal terminlich mit den Olympischen Spielen in Tokio. Und da würde ich schon auch gern dabei sein.
Nicht alle Radprofis sind olympiabegeistert. Der legendäre Miguel Indurain meinte nach seinem Olympiasieg im Zeitfahren 1996 sogar, er würde fünf olympische Goldmedaillen hergeben für einen Toursieg. Was halten Sie von dieser Gewichtung?
Klar, die Tour ist das Größte im Radsport. Aber der Titel Olympiasieger geht über den Radsport hinaus. Das ist etwas ganz Besonderes.
Kommt Ihnen denn der Kurs in Tokio entgegen?
Die Strecke hat zum Teil ein Klassikerprofil. Da sollte ich ganz gut damit zurecht kommen. Eine Rolle spielt natürlich, welche klimatischen Verhältnisse herrschen werden. Es kann dort im Sommer sehr heiß werden.
Welche Möglichkeiten sehen Sie denn im Kampf um Gold?
Es wäre vermessen zu sagen: Ich werde in Tokio Olympiasieger. Aber ich kann mir schon einige Chancen dafür ausrechnen.
Interview: Armin Gibis