München – Eigentlich wollte Tennistrainer Michael Geserer, 51, etwas kürzer treten. In seine Heimat Regensburg zurückkehren, eine Akademie aufbauen und wieder näher bei seiner Familie leben. Zuvor hatte er jahrelang als Trainer an der Tennisbase in Oberhaching gearbeitet und dabei immer wieder Weltklassespieler und -spielerinnen bei ihren Reisen rund um die Welt begleitet. Deutsche Profis wie Philipp Kohlschreiber oder die inzwischen zurückgetretene Julia Görges. Dieser Plan liegt gute vier Jahre zurück. Doch eine Nachricht im Herbst 2019 machte dieses Vorhaben zunichte. Eine Nachricht, die ihn bis ins Finale der Australian Open führen sollte.
Doch der Reihe nach. Im Herbst 2020 wartet auf Geserer eine Mail von Billy Heiser in seinem Postfach. Heiser trainiert die US-Amerikanerin Alison Riske und weiß, dass eine gute Freundin seiner Spielerin – eine gewisse Jennifer Brady – einen neuen Trainer sucht.
„Wäre das nicht vielleicht was für dich?“, lautet die Kernbotschaft hinter seinen Zeilen. Verbunden mit der Bitte, unmittelbar nach Peking aufzubrechen, um Brady dort direkt zu unterstützen. Geserer überlegt. Schaut sich Videos von Brady an. Ihre Spielanlage überzeugt den Ex-Profi. Er steigt in den Flieger Richtung China.
Vom ersten Treffen an ist der deutsche Coach auf Probe von der Einstellung der Amerikanerin begeistert: „In China hat sie Matches trotz Krämpfen im Arm und den Beinen gewonnen, dank ihrer unglaublichen Mentalität. Das hat mich beeindruckt sie hat meine Ratschläge erfolgreich umsetzen können, obwohl wir uns nicht kannten.“
Wie aus dem Beschnuppern in Asien ein deutsch-amerikanisches Erfolgsduo wachsen konnte, das dieses Jahr ins Endspiel der Australian Open in Melbourne stürmte, erzählt der 51-Jährige im Gespräch mit unserer Zeitung.
Herr Geserer, Sie befinden sich gerade auf dem Sprung von Regensburg zum Turnier nach Miami. Wie läuft so eine Reise in Pandemie-Zeiten ab?
In den Flieger darf man nur mit einem negativen Corona-Test einsteigen. Das Ergebnis muss zwischen 48 und 72 Stunden alt sein. Und wenn wir in Miami landen, werden wir sofort in ein Hotel gebracht und erneut getestet. Bis dieses Resultat vorliegt, müssen wir in Quarantäne bleiben. Danach dürfen wir uns im Hotel und auf der Tennisanlage relativ frei bewegen, werden jedoch auch alle drei bis vier Tage getestet.
Nach viel Spaß klingt das nicht.
Wir befinden uns ja aber auch nicht in spaßigen Zeiten. Wir sind dankbar, dass die Tour so stattfindet und wir unserem Beruf nachgehen können. Andere Berufe hat es da deutlich schlimmer erwischt.
Aber so geht viel Faszination für das Tennis verloren.
Das ist richtig, keine Frage. Die Spieler und Spielerinnen lieben den Kontakt zu den Fans, die Emotionen. Daraus schöpfen die meisten Motivation und zusätzliche Kraft. Das fehlt enorm. Nicht nur im Tennis, sondern in jedem Sport.
In Melbourne durften Sie wieder an einem Stück Normalität schnuppern.
Das hat sich sehr gut angefühlt. Zeitweise durften zwischen 20 000 und 30 000 Zuschauer auf die Anlage. Miami startet jetzt auch mit 20 Prozent Zuschauer-Auslastung. Das ist schon erheblich schöner, als vor leeren Rängen zu spielen.
Sportlich läuft es ausgezeichnet. Ihr Schützling Jennifer Brady stürmte in Melbourne bis ins Finale – obwohl sie vorher in Quarantäne 16 Tage ihr Zimmer nicht verlassen durfte.
Im Nachhinein klingt das wie ein großes Abenteuer. Aber glauben Sie mir, ein Spaß waren diese 16 Tage nicht. So etwas muss ich nicht noch einmal erleben. Wir konnten es jedoch nicht ändern und haben versucht, das Beste aus der Situation zu machen. Das Hotelzimmer zum Trainingsgelände umfunktioniert. Jennifer hat super mitgezogen. Es freut mich ungemein, dass sie sich mit dem Finale belohnen konnte.
Nun gehört sie zu den gejagten Spielerinnen. Wie bereiten Sie sie auf die neue Situation vor?
Indem man sich klar macht, dass das ja das Ziel gewesen ist, auf das man lange hingearbeitet hat. Als Tennisprofi willst du besser werden, Matches gewinnen. Sonst brauchst du nicht auf den Platz gehen. Gelingt dir das, kletterst du automatisch in der Rangliste und bist in den meisten Begegnungen die Favoritin. Das ist eine Auszeichnung, keine Bürde. Das weiß Jennifer aber auch, da mache ich mir keine Sorgen.
Warum startet sie gerade jetzt durch?
Die letzten Jahre war sie eine solide Top-50-Spielerin. Aus eigenem Antrieb hat sie dann gesagt: „Ich will mehr. Dafür muss ich aber etwas verändern.“ Die Motivation aus sich selbst heraus ist dabei entscheidend. Über eine Empfehlung haben wir uns in 2019 in Peking getroffen und eine Turnierwoche miteinander verbracht. Sie hat sich sofort total offen für meine Ideen gezeigt und hatte keine Angst, ihre Komfortzone zu verlassen.
Was waren Ihre Vorschläge?
Ich habe gesagt, dass ich mit ihr die Vorbereitung in Regensburg absolvieren möchte. Gemeinsam mit einem neuen Physiotherapeuten an ihrer Seite – Daniel Pohl. Sie hat, ohne groß zu überlegen, Ja gesagt. Ich kenne keine Amerikanerin, die ihre Vorbereitung nicht den USA macht. Aus Orlando nach Regensburg: Für Jennifer fraglos ein Kulturschock. Ihr unbändiger Wille, sich zu verbessern, war jedoch stärker.
Was zeichnet sie aus?
Sie gibt immer 100 Prozent. Egal ob in einem Match, auf dem Trainingsplatz oder in einer Konditionseinheit. In einem Grand-Slam-Match alles zu geben, schaffen einige Spielerinnen. Aber in einer kalten Halle in Regensburg morgens um 9 Uhr bei einer Krafteinheit? Dort genauso 100 Prozent aus sich heraus-zuholen, das schaffen dagegen nicht so viele.
Was fehlt ihr noch, um auch eine Naomi Osaka schlagen zu können, oder spielt Osaka schon in ihrer eigenen Liga?
Eine andere Liga ist Naomi Osaka nicht. Ich wünsche mir noch mehr Partien gegen sie, daraus kann Jennifer viel mitnehmen. Und mit ihrer Lernfähigkeit bin ich mir sicher, dass sie Osaka auch schlagen kann.
Bedeutet das, Jennifer Brady ist eine dauerhafte Top-5-Spielerin?
Mir fällt nichts ein, was dagegen spricht.
Was war für Sie ausschlaggebend, dass Sie mit Jennifer Brady zusammenarbeiten wollten?
Ihr Herz, ihr Wille und ihre Leidenschaft. Technisch kann man immer etwas verändern. Genauso im athletischen Bereich. Daniel Pohl ist in dem Bereich ein Topexperte, dem ich sehr vertraue. Aber ohne die drei genannten Grundvoraussetzungen wird es schwierig. Die habe ich bei Jennifer vom ersten Tag an gespürt. Bis heute.
Fehlt den deutschen Spielerinnen und Talenten diese Einstellung bisweilen?
So negativ sehe ich das nicht. Es gibt einige gute Talente, die in den nächsten Jahren nach oben kommen können. In meiner Akademie in Regensburg trainiert seit Kurzem zum Beispiel Jule Niemeier. Sie hat sich nach fünf Jahren bei Alexander Waske in Offenbach entschieden, nach Regensburg in unsere Base zu kommen. Sie brennt für den Sport. Genau wie eine Jennifer Brady.
Wie kann man sich die Arbeit zwischen Ihnen und Brady vorstellen? Gerade während der Pandemie.
Wir haben uns während des ersten globalen Lockdowns über fünf Monate nicht mehr gesehen. Daniel Pohl hat ihr einen täglichen Athletikplan geschrieben, ich ihr einen Tennisplan. Und den hat sie umgesetzt. Sie hat Einheiten gefilmt, mir zugeschickt und am Abend haben wir dann darüber diskutiert.
Ein Modell mit Zukunft?
Ein klares Nein. Es ist aber das Beste, was man unter solchen Umständen möglich ist. Das Feedback, das man geben kann, wenn man direkt neben der Spielerin steht, ist allerdings ein ganz anderes als aus der Ferne.
Jennifer Brady wird also nach Regensburg zurückkehren?
Was heißt „zurückkehren“? Regensburg ist ihr fester Trainingsstandort. Wir werden mit Sicherheit weiter gemeinsam in Regensburg trainieren.
Dann können wir mit Jennifer Brady womöglich bald auf Deutsch sprechen …
… das wird noch ein bisschen dauern. Aber „Schnitzel“ geht ihr zum Beispiel schon sehr gut über die Lippen.
Interview: Daniel Müksch