„Das IOC spielt Russisch Roulette“

von Redaktion

Pharmakologe Sörgel zur Corona-Gefahr bei Tokio-Spielen: „Halte das für Menschenexperiment“

München – Nach der Corona-Flut bei der Hallen-EM der Leichtathleten in Torun (mehr als 50 Fälle bei 700 Athleten) und beim Fecht-Weltcup in Budapest (30 Infektionen unter 400 Sportlern) steht hinter der Austragung der Olympischen Spiele in Tokio (23. Juli bis 8. August) mehr denn je ein Fragezeichen. Unsere Zeitung hat dazu Pharmakologe und Doping-Jäger Prof. Dr. Fritz Sörgel befragt.

Herr Sörgel, sind sichere Olympische Spiele vorstellbar?

Was das Internationale Olympische Komitee derzeit macht, ist wie Russisch Roulette. In ein paar Tagen soll es wieder eine neue Entscheidung geben, aber auf welcher Basis? Am Donnerstag begann der Fackellauf der olympischen Flamme. Ich habe vor einem Jahr Interviews gegeben, die Antworten passen heute noch. Es hat sich nichts geändert – wenn, dann ist die Situation sogar noch schlimmer und vor allem noch viel unsicherer geworden. Und nebenbei bemerkt: Auch die Japaner wollen die Spiele derzeit überwiegend nicht.

IOC-Präsident Thomas Bach hatte zwischenzeitlich den chinesischen Impfstoff Sinovac als Lösung präsentiert.

Nur haben Japan und auch Deutschland dafür schon abgewunken. Zudem hört man aus Chile, dass der Impfstoff doch nicht so toll sein soll.

Könnte eine flächendeckende Impfung der Athleten ein Ausweg sein?

Ich schätze, dass bis zum Beginn der Spiele am 23. Juli ungefähr zehn bis 15 Impfstoffe mit verschiedenen und auch mit fraglichen Wirkungen auf dem Markt sein werden. In Tokio treffen, die Trainer und Betreuer nicht mit eingerechnet, 10 000 Athleten aus 200 Ländern und unterschiedlich wirksamen Impfstoffen – wenn überhaupt geimpft – aufeinander. Ganz zynisch gesagt: Aus wissenschaftlicher Sicht ist die Konstellation hochinteressant. Wir können viel daraus lernen und ich befürchte viel Katastrophen-Handling.

Und wenn wir den Spott beiseite lassen?

Wieso Spott? Wir sind derzeit alle Versuchskaninchen, nicht nur die Sportler, aber die Situation bei Olympia ist so speziell, dass es nicht klappen wird. Nehmen wir den Geisterfußball. Der funktioniert relativ gut – bis jetzt noch. Die DFL ist sich aber nicht mehr sicher und plant für den April eine Art Quarantäne-Trainingslager; sie weiß, was die Stunde geschlagen hat. Aber in Tokio sind 51 Disziplinen in 33 Sportarten in zwei Wochen geplant. Ein sicheres Konzept dafür zu schaffen, ist unglaublich komplex. Ganz abgesehen davon, dass ich bezweifle, dass man es schafft, die Athleten vor Ort völlig voneinander zu trennen. Man kann es drehen und wenden, wie man will, mit der Menge der Wettbewerbe ist es nicht sicher durchführbar. Selbst wenn man hinter jeden Sportler einen japanischen Bewacher mit Teststäbchen in der Hand stellt (lacht).

Das klingt desillusioniert.

Damit das nicht falsch herüberkommt. Ich habe prinzipiell keine ablehnende Haltung gegenüber Olympia, weil ich für jede Ablenkung für unsere gestresste Gesellschaft in der Pandemie dankbar bin. Nur schade, dass eben auch der obszöne Milliardensport wie Fußball, Basketball und Ähnliches gewinnt. Für die Ruderer, Bogenschützen und kleineren Sportarten, die nur alle vier Jahre das große Publikum haben, tut es mir leid, das sind noch echte Sportler. Trotzdem können wir nicht das Risiko eingehen, dass Mutanten verbreitet werden. Und selbst wenn viele geimpft wären: Eine Impfung verhindert keine Infektion, sondern schützt vor schweren Verläufen. Man kann eben immer noch Träger sein und das Virus weitergeben.

Könnten auch neue Mutante entstehen?

Theoretisch ist das in zwei bis zweieinhalb Wochen denkbar, aber das größere Problem ist, dass in Tokio Länder zusammenkommen, die bei Weitem nicht so gut auf Virustypen untersucht sind wie wir hier in Europa oder anderen Industrieländern. Die kommen vielleicht mit einer Mutante an, die gar niemand kennt und in zwei Wochen kennt sie dann jeder. Das klingt zynisch, aber das ist das Problem. Es reicht doch jetzt schon, dass wir mit der neuen mRNA-Impfstoffherstellung für zwei oder drei Mutanten möglichst schnell geeignete Impfstoffe brauchen. Was, wenn da zehn aus exotischen Ländern dazukommen, die keiner kennt? Dazu reichen die jetzt mühsam aufgebauten Ressourcen nicht, es führt in die Katastrophe. Dass der Ablauf dabei genauso reibungslos ist wie beim Champions-League-Turnier vergangenes Jahr in Lissabon oder bei einer Ski-WM, das stellt sich die Welt des IOC zu einfach vor. Das sind Sportwettbewerbe quasi in Isolation, die man bei Olympischen Spielen nicht so erreichen kann. Ich halte das für ein unverantwortliches Menschenexperiment.

Es sieht ganz danach aus, dass das IOC die Spiele dennoch durchzieht.

Dass das IOC das durchziehen wird, ist mir klar. Die Konsequenzen können aber verheerend sein. Vergessen wir auch nicht: Das japanische Volk wird nur zum Teil geimpft sein, es ist also nicht so, als ob es in USA oder Israel stattfände, wo am 24. Juli alle durchgeimpft sind. Was ich bei all dem noch kritisieren muss: Was ist eigentlich mit der Weltgesundheitsorganisation? Von der WHO höre ich bisher nur belanglose Kommentare, dabei müsste sie mehr Einfluss nehmen.

Sollte Tokio stattfinden: Wie viel Sorge bereiten Ihnen die durch die Pandemie geschwächten Dopingkontrollen?

Eine spannende Frage. Bei all den Schwierigkeiten in der Vorbereitung müssten die Leistungen der Athleten eigentlich schwächer sein. Es wären auf jeden Fall maximal ungerechte Spiele, weil die individuellen pandemischen Voraussetzungen völlig unterschiedlich sind. Ich denke, dass wir viele Überraschungen erleben, aber nicht welche, weil es ein fairer Wettkampf ist mit gleichen Bedingungen für alle.

An dieser Hypothese werden Sie sich messen lassen müssen.

Sehr gerne. Ich würde mich übrigens, zum Wohle aller, auch freuen, wenn ich mit meinen Prognosen falsch liege. Aber derzeit ist das Risiko einfach nicht kalkulierbar.

Interview: Mathias Müller

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