München – Es war ein Kindheitstraum. Ein Traum, den sich Ornella Wahner am 24. November 2018 in Neu-Delhi erfüllte. Die damals 25-jährige Federgewichtlerin bezwang im Finale die Inderin Sonia mit 4:1 Punktrichterstimmen, krönte sich zur ersten deutschen Amateur-Boxweltmeisterin. Wahner hat heute noch die Stimme des Hallensprechers, der ihren Sieg verkündet, im Kopf: „Ich wollte immer, dass mein Name bestehen bleibt, wenn ich mal von der Erde gehe. Das habe ich mit dem Triumph geschafft.“ Was Wahner aber stört, auch heute noch: Der Begriff „Amateur-Boxweltmeisterin“. Ihr ist lieber: „Olympisches Boxen.“ Und genau da möchte die gebürtige Dresdnerin hin: Nach Tokio, zu den Olympischen Spielen. Anfang Juni hat sie bei einem Turnier in Paris die große Chance, das Ticket zu lösen. In ihrer Gewichtsklasse (bis 57 kg) werden fünf Plätze vergeben, Wahner braucht zwei Siege: „Ich bin zuversichtlich, dass ich das schaffe.“
Die Karriere der heute 28-Jährigen begann auf der Couch. Mit ihrem Vater schaute sie Boxkämpfe im Fernsehen an – das große Vorbild war damals Regina Halmich – und wollte es auch selbst mal ausprobieren. Papa war begeistert von der Idee, die Mutter eher nicht. 2010 deutsche Jugendmeisterin, 2011 Juniorenweltmeisterin, 2012 deutsche Meisterin der Frauen. Es war schnell abzusehen, dass Wahner eine Erfolgsgeschichte schreibt. Mit dem vorläufigen Höhepunkt des Kampfs in Neu-Delhi. Wahner denkt oft an diesen Tag zurück. Besonders dann, wenn es im Training mal schlecht läuft, sie erschöpft ist: „Der Tag, der Kampf, die Sekunden der Entscheidung erinnern mich immer daran, wofür ich den ganzen Aufwand betreibe.“
Aktuell betreibt Wahner den Aufwand für Tokio. Letztes Jahr im März wurde das Olympia-Qualifikationsturnier der Boxer aufgrund der Corona-Krise abgebrochen. „Das war auch für uns ein Cut“, sagt Wahner, die anschließend zwei Monate nicht trainieren durfte. Der erste Wettkampf während der Pandemie war dann dieses Jahr im Februar: „Die Aufregung vor dem Kampf, das Gewicht bringen, der ganze Trubel drum herum, daran muss man sich erst wieder gewöhnen.“ Immerhin war die Sportsoldatin, Oberfeldwebel bei der Bundeswehr, finanziell immer abgesichert.
Wahner hat eine Liste mit Punkten, die sie abhaken möchte. Der WM-Titel ist bereits da, Olympia vor der Nase. Auf der Liste stehen auch Sachen, die nichts mit Sport zu tun haben. Welche Länder sie beispielsweise noch bereisen möchte oder ein Fallschirmsprung.
Ein weiteres Ziel: mehr Aufmerksamkeit für das Frauenboxen. Jemand, der noch nie Frauenboxen gesehen hat, habe erst mal Vorurteile. Dafür hat Wahner auch Verständnis. „Wenn ein Wettkampf von zwei Boxerinnen aber beispielsweise mal vor einem Hauptkampf der Männer stattfinden würde, würden die Vorurteile schnell abgebaut. Weil alle dann sehen: Oh, so schlecht sieht das ja gar nicht aus. Die können das auch, da geht es genauso zur Sache.“ Wahner schlägt vor, dass man Frauenkämpfe in die Box-Bundesliga, die bislang nur für Männer vorgesehen ist, integriert. Generell sei man aber schon deutlich weiter als zu ihrer Anfangszeit: „Ich musste mich richtig durchkämpfen. Durch meinen WM-Titel hat das Frauenboxen auch wieder an Bedeutung und Präsenz gewonnen.“
Eine Teilnahme bei den Olympischen Spielen würde diese Entwicklung der letzten Jahre weiter vorantreiben. „Ich habe jetzt fünf Jahre alles für den großen Traum von Olympia gegeben. Habe privat und im Studium viele Sachen hinten angestellt. Natürlich würde eine kleine Welt zusammenbrechen, sollten die Spiele nicht stattfinden.“
Der Fahrplan für die kommenden Monate steht: In Paris die Olympia-Quali meistern, in Tokio auf der größten Bühne des Sports weiter Werbung für das Frauenboxen betreiben. Und dann? Bleibt genug Zeit für den Fallschirmsprung.