Tuchels Stein in Guardiolas Schuh

von Redaktion

Triumph im Duell der Taktik-Gurus – danach wird der deutsche Erfolgstrainer zum Feierbiest

Porto – Im Moment des allumfassenden Glücksrausches herzte Thomas Tuchel seine Töchter Kim und Emma, er zwang seine Hüften sogar zu einem kleinen Tänzchen. Seine Ehefrau Sissi sprang ihm in die Arme. Während seine Champions-League-Sieger um „Goldfüßchen“ Kai Havertz den Henkelpott stolz ihren Fans entgegen stemmten, zog sich der Star-Coach des FC Chelsea dankbar in den Kreis seiner Liebsten zurück.

„Ich laufe wie durch einen Film. Meine Familie, meine Kinder und meine Eltern sind hier“, schwärmte Tuchel, nachdem er Pep Guardiola und Manchester City im Finale von Porto mit 1:0 (1:0) bezwungen hatte: „Das ist das Schönste. Wenn ich drüber nachdenke, fange ich an zu weinen.“ Tuchel, 47, ist im Olymp der weltbesten Fußball-Trainer angekommen.

Als Letzter, um 22.43 Uhr Ortszeit, wuchtete er den Cup in die Luft. Den Sieg widmete er der Familie. „Meine Eltern, die mich auf jeden Platz gefahren haben, meine Frau, die in der Landesliga Süd bei der zweiten Mannschaft vom FC Augsburg hinter mir stand und dachte: ‘Mit wem bin ich denn da zusammen?’ Meine Oma, die zu Hause schaut mit über 90: Für die ist das jetzt, ehrlich gesagt.“

Das Feierbiest in sich ließ Tuchel erst später frei. Mit Champagner im Anschlag stürmte er in die Kabine und spritzte seine Spieler nass, dass es eine Freude war. Sogar einen Schuh zog er vom Fuß und gönnte sich einen kräftigen Schluck daraus. Der Druckabfall war offensichtlich: Im Vorjahr hatte Tuchel mit Paris St. Germain das Finale noch gegen den FC Bayern verloren.

Bei Chelsea kam er im Januar in ein schwieriges Umfeld. Abgeschlagen lag der Club im Mittelfeld der Premier League, die Zugänge Timo Werner und Havertz zündeten nicht. Davon spricht nach dem 29. Mai 2021 in London niemand mehr. Plötzlich ist Chelsea das Maß aller Dinge in Europa, Tuchel der Architekt des Erfolgs – und Kai Havertz ein Held.

„Für mich geht ein Kindheitstraum in Erfüllung“, sagte der frühere Leverkusener, der in der 43. Minute City-Torwart Ederson umkurvt und zum Siegtor eingeschoben hatte: „Seit ich fünf oder sechs bin, erinnere ich mich an jedes Champions-League-Finale.“ Der 21 Jahre alte Offensivkünstler, kürzlich noch positiv auf Corona getestet, sprach von einem „unfassbaren Gefühl“. Eine Frage nach dem Druck wegen seiner Rekordablöse (80 Millionen Euro) konterte der ehemalige Leverkusener spitzbübisch: „Das kümmert mich gerade einen Scheiß. Wir haben die verdammte Champions League gewonnen. Wir feiern jetzt einfach.“

Für die deftige englische Wortwahl mit einem doppelten „F***“ entschuldigte er sich später bei Twitter, für die Leistung gibt es nur Anerkennung. Nationalverteidiger Antonio Rüdiger und Abräumer N’Golo Kante zogen die Mauer hoch, sodass dem Guardiola-Team kaum Kreatives einfiel. „Wir haben es gestern gefühlt, wir haben es vorgestern gefühlt. Wir haben die ganze Zeit gesagt: Wir sind der Stein im Schuh von City“, sagte Tuchel, derweil Kritik an seinem Gegenüber laut wurde. Hat Guardiola erneut ein wichtiges Spiel vercoacht? Seine Überfall-Idee zündete nicht. Im ersten Durchgang kamen die Citizens kaum hinter die von Chelseas Abwehrchef Antonio Rüdiger perfekt organisierten Linien, im Rückwärtsgang waren sie für Konter anfällig. Kapitän und Stabilisator Fernandinho durfte erst ab der 64. Minute ran. „Ich habe getan, was für das Team am besten ist“, verteidigte Guardiola seine Taktik.

Tuchel blickte derweil schon weiter in die Zukunft. Lange wolle er sich nicht ausruhen, sagte der ehrgeizige Coach. Er wolle „den nächsten Erfolg, den nächsten Titel“. Das dürfte er auch Club-Eigner Roman Abramowitsch mitgeteilt haben, den er im Estadio do Dragao erstmals persönlich traf.

Ein Thema wird sicher auch Tuchels ungeklärte Vertragssituation werden. „Ich bin nicht 100-prozentig sicher, aber vielleicht habe ich durch diesen Sieg schon einen neuen. Das könnte sein“, sagte Tuchel lachend: „Das müssen wir erst checken.“

Bislang lief Tuchels Vertrag bis Sommer 2022, aber nun stehen bei Chelsea alle Zeichen auf Ära.  sid

Artikel 1 von 11