Riga/München – Das nächste deutsche Eishockey-Wunder nach Olympia-Silber von 2018 – es ist im Anflug. Die Nationalmannschaft hat bei der WM 2021 in Riga das Halbfinale erreicht. Und auf welch beeindruckende Art: Im Viertelfinale machte sie gegen den Erzrivalen Schweiz einen 0:2-Rückstand wett, rettete sich in letzter Minute in die Verlängerung und gewann schließlich nach Penaltyschießen mit 3:2 (0:1, 1:1, 1:0, 0:0). Von fünf Schüssen wurden zwei verwandelt, durch Dominik Kahun und Marcel Noebels, dessen Mitwirken auf der Kippe gestanden hatte. Gegner im Halbfinale am Samstag (17.15 Uhr/Sport1): das aus der Vorrunde bekannte Finnland.
Bemerkenswert an diesem Spiel waren neben seinem verrückten Verlauf Intensität und Härte – ohne dass die Partie ausgeartet wäre. Die erste Strafzeit sprachen die Schiedsrichter in der 28. Minute aus, obwohl bis dahin von beiden Seiten die Checks „zu Ende gefahren“ wurden, wie das im Eishockey-Jargon heißt. Auf Schweizer Seite tat sich dabei Timo Meier hervor, der Jungstar aus der NHL, für die Deutschen hielt Moritz Seider, noch jünger, noch kräftiger und bester Verteidiger in der schwedischen Liga, dagegen.
In der 28. Minute musste dann aber Matthias Plachta für zwei plus eine persönliche Disziplinarstrafe raus. Eine korrekte Entscheidung, er hatte Gegenspieler Enzo Corvi in die Bande gewuchtet (ansonsten übersahen die Referees so einiges, vor allem Schweizer Spielverzögerungen). Die Lage fürs DEB-Team verschärfte sich, als 22 Sekunden später auch Tom Kühnhackl auf die Strafbank musste. Das zwang Toni Söderholms Mannschaft in eine doppelte Unterzahl.
Die überstand sie bravourös, bezahlte aber für den energetischen Aufwand: Die Schweiz stellte in der 34. Minute durch Fabrice Herzog auf 2:0. Das Führungstor hatte sie im ersten Drittel erzielt (16. Minute), schön herauskombiniert und durch Ramon Untersander vollendet.
0:2-Rückstand – was geschieht da auf der Bank? „Wir haben gesagt: Wir brauchen jetzt ein Tor, um das Ganze zu starten“, verriet Kapitän Moritz Müller im Drittelpausen-Interview bei Sport1, „die Schweiz soll sich nicht wohl fühlen im letzten Drittel.“ Und der Anschlusstreffer fiel. Tom Kühnhackl arbeitete die Scheibe am Schweizer Torhüter Leonardi Genoni vorbei über die Linie.
Müller feuert jeden in der Mannschaft noch einmal an, bevor es wieder aufs Eis geht, manchem pappt er noch einen Kuss auf die Wange – und so ging es in den dritten Abschnitt. Es wurde Druck aufgesetzt aufs Tor der „Eisgenossen“. Die deutschen Stürmer flogen übers Eis, umkurvten das Tor, die Verteidiger wurden in Schussposition gebracht. „Schließlich letztes Mittel: Torwart runter mit 80 Sekunden Restspielzeit. Und: Ausgleich durch Abwehrmann Gawanke, als noch 44 Sekunden dastanden.
Verlängerung. Drei gegen drei Mann. Lukas Reichel war einem Treffer am nächsten (67.). Nach zehn Minuten weiter ins Penaltyschießen.
Mit einem fantastischen Torhüter Niederberger, der nur ein Tor (Meier) zuließ, während Kahun und Noebels Genoni überwanden. „Mein Herz ist tiefer gerutscht, ich habe den Kopf einfach ausgeschaltet. In der Liga hat diese Variante schon geklappt.“ Trainer Söderholm: „Ein Tor für eine Briefmarke.“
Für die Schweiz gab’s Abschiedspräsente, für die deutschen Sieger die Hymne. Befreites Mitsingen, ein Lachen auf den Lippen. „Ganz Deutschland kann den Moment genießen“, sagte Noebels. Dominik Kahun: „Olympia war mein Lieblingsturnier. Das jetzt erinnert mich ans Olympia-Team, darum bin ich gekommen.“ Und noch was Nostalgisches. Bei der WM 2010, als Deutschland im Viertelfinale ebenfalls die Schweiz besiegte, „war ich als Ice-Boy dabei. Ich habe in den Spielunterbrechungen das Eis gekratzt.“