„Calhanoglu kann zum Superstar werden“

von Redaktion

Türkei-Experte Daum über EM-Erwartungen, die Günes-Auswahl und das Auftaktspiel in Italien

München – Christoph Daum, 67, war Coach von Besiktas, Fenerbahce, und Bursaspor. In der Türkei wurde die Trainer-Legende dreimal Meister, zweimal Superpokal- und einmal Pokalsieger. In unserem Interview spricht der Experte über das EM-Eröffnungsspiel heute in Rom zwischen Italien und der Türkei.

Herr Daum, die WM 2018 fand ohne die Türkei statt. Seitdem geht es wieder bergauf. Warum?

Die Schwierigkeit bei der Nationalmannschaft ist immer, die unterschiedlichen Gruppen zu einer Einheit zu formen. Es gibt die in der Türkei geborenen und aufgewachsenen Spieler. Dann sind da jene, die in die Türkei gezogen sind, aber in Europa geboren und daher die europäische Erziehungsmentalität erlebt haben. Und es gibt die in Europa geborenen und spielenden Akteure. Nationaltrainer Günes hat es verstanden, diese Gruppen unter dem Halbmond zu versammeln und eine Einheit zu formen.

Was zeichnet das Team spielerisch aus?

Die starken Innenverteidiger sind eine solide Grundlage für das sehr gute Umschaltspiel der Nationalmannschaft. Es ist keine Mannschaft, die mit Ballbesitz und Dominanz glänzt. Aber nach Ballgewinn geht es mit Tempo in die Spitze. Das macht die Türkei so gefährlich.

Und sonst?

Der absolute Stolz, das Nationaltrikot zu tragen. Für die Spieler ist das eine Riesen-Ehre. Bei uns in Deutschland hat man oft das Gefühl, dass Club-Manager oder Stars, die bei ihren Vereinen in einigen Wettbewerben viele Spiele gemacht haben, dann wegen einer Blessur um eine Pause beim Nationalteam bitten. Das wäre bei der Türkei undenkbar. Für die Spieler selbst wäre das ein No-Go.

Auf welche Spieler muss man ein Auge haben?

Hakan Calhanoglu kann zum Superstar bei der EM werden, er ist beim AC Mailand gesetzt. Stürmer Burak erlebt beim französischen Meister Lille seinen zweiten Frühling, hat die eingebaute Torgarantie. Auch sein Teamkollege Yazici ist sehr gut. Liverpool-Leihspieler Kabak und Leicester-Verteidiger Söyüncü haben in der Premier League gespielt. Dazu kommt Ayan von Sassuolo. Dieses Selbstvertrauen aus den Vereinen überträgt sich auch auf die Nationalmannschaft.

Wie sehen Sie die Akteure, die in der Türkei spielen?

Besiktas Istanbul ist überraschend Meister geworden. Dort haben sich hungrige und weniger bekannte Akteure mit Riesenpotenzial in den Vordergrund gespielt. Davon profitiert auch Nationaltrainer Günes. Von Besiktas sind Linksverteidiger Yilmaz und Mittelfeldspieler Toköz bei der EM dabei.

Wie schätzen Sie Auftakt-Gegner Italien ein?

Ich kenne Nationaltrainer Mancini ganz gut. Er setzt auf routinierte Spieler. Die Italiener bringen eine Cleverness und Abgezocktheit mit. Es kommt nicht von ungefähr, dass sie seit September 2018 nicht verloren haben.

Was trauen Sie der Türkei heute zu?

Gegen große Nationen können sie ihr Potenzial abrufen. Nun spielen sie in Rom gegen Italien. Die türkischen Spieler werden voll motiviert sein und sich sagen: „Jetzt können wir wieder mal zeigen, wozu wir in der Lage sind!“ Ich tippe auf ein Remis.

Interview: Philipp Kessler

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