München – Nicht nur Bundestrainer Joachim Löw hat sich nach der 0:1-Pleite zum EM-Auftakt gegen Frankreich intensiv Gedanken gemacht, wie er die lahmende Offensive im zweiten Gruppenspiel gegen Portugal (Samstag, 18 Uhr, ARD und Magenta TV) wieder in Schwung bringt. Auch die Nationalspieler haben in den vergangenen beiden Tagen intern angeregt darüber diskutiert, was geschehen muss, um im weiteren Turnierverlauf für die nötige Durchschlagskraft vor dem gegnerischen Tor zu sorgen.
Bei diesen Gesprächen soll den Führungsspielern um Kapitän Manuel Neuer folgender Lösungsansatz in den Sinn gekommen sein: Durch den Einsatz von möglichst vielen Spielern des FC Bayern könnte man kompensieren, dass die Nationalmannschaft nicht eingespielt ist. Zum Vergleich: Andere Nationen wie Italien (seit 29 Partien ungeschlagen), Weltmeister Frankreich oder Belgien haben sich über Jahre hinweg aufeinander eingestellt. Beim DFB hingegen wollte der Bundestrainer nach der WM-Blamage 2018 den Umbruch und sortierte daraufhin Leistungsträger wie Thomas Müller, Mats Hummels oder Jerome Boateng aus.
Nach zahlreichen Rückschlägen (Corona-Unterbrechung, Fast-Abstieg aus der Nations League und 0:6-Debakel gegen Spanien) machte Löw die Rolle rückwärts und holte kurz vor der Europameisterschaft mit Müller, Hummels und auch Kevin Volland erfahrene Kräfte zurück. Denn: Durch seinen angekündigten Rücktritt konnte dem Bundestrainer fortan die langfristige Entwicklung der Nationalmannschaft egal sein. Es zählt nur noch der Erfolg bei seinem letzten Turnier. Nun muss er eine nicht eingespielte Ansammlung talentierter Einzelspieler zu einem funktionierenden Kollektiv formen – und dabei könnte der Bayern-Block zum entscheidenden Faktor werden.
Unmittelbar nach dem Frankreich-Spiel bemängelte Löw: „Wir müssen vorne mit den Laufwegen und mit der Abstimmung beim Nachrücken noch besser werden.“ Oder anders formuliert: Die Automatismen müssen greifen.
Offensiv eingespielt ist das Bayern-Trio Müller, Serge Gnabry (gestern Trainingspause) und Leroy Sané. Zwar ließen die Auftritte des ewigen Hoffnungsträgers Sané in den vergangenen Wochen zu wünschen übrig, doch der Linksfuß kennt die Laufwege und Gedankengänge seiner beiden bayerischen Offensivkollegen besser als beispielsweise die Chelsea-Spieler Kai Havertz, Timo Werner oder Monaco-Stürmer Volland. Hinter Sané, Gnabry und Müller sorgen in München Joshua Kimmich und Leon Goretzka im Mittelfeld-Zentrum für die nötige Balance zwischen Angriff und Verteidigung.
Während ein Startelf-Einsatz von Goretzka gegen Portugal laut Löw wohl noch zu früh kommt („Leon wird eine gute Option sein im Laufe des Spiels“), müsste der Bundestrainer bei Kimmich über seinen Schatten springen und ihn im 4-2-3-1-System statt in der Dreierkette als Sechser einsetzen. Mit seinen scharfen Seitenverlagerungen und überraschenden Chip-Bällen aus dem Halbfeld kann Kimmich eng stehende Abwehrketten mit nur einer Aktion sprengen. Und die Münchner Nationalspieler wissen auch, wie man diese Bälle veredelt. Am besten schon mit einem Tor gegen Portugal.
Bleibt abzuwarten, ob der Bundestrainer das ähnlich sieht – oder weiterhin stur bleibt. Für die finale Vorbereitung auf das Duell mit den Portugiesen um Superstar Cristiano Ronaldo hat sich Löw vorgenommen, mit ausführlichen Video-Analysen aufzuzeigen, wo er konkretes Verbesserungspotenzial sieht und wo seine Mannschaft „punktuell den Hebel ansetzen kann“.