Der Geh-Heim-Favorit

von Redaktion

„Wir sind nicht traurig, wir schämen uns“ – Die Türkei erlebt eine EM zum Vergessen

VON JONAS AUSTERMANN

München – Aus dem Geheimfavoriten Türkei ist der Geh-Heim-Favorit geworden. Drei Spiele, null Punkte, 1:8 Tore – so liest sich die Grusel-Bilanz der Mannschaft von Trainer Senol Günes. Dabei war der talentierten Truppe von vielen Experten einiges zugetraut worden, Hertha-Geschäftsführer Fredi Bobic hatte die Türkei sogar als seinen „Geheimfavoriten“ auserkoren. Aber nichts da!

Das 1:3 (0:2) gegen die Schweiz war nur der erschreckende Schlussakkord eines EM-Turniers, in dem die Türken keinen Fuß an den Boden bekamen. Erst die Mauer-Taktik beim Auftakt gegen Italien, die vollkommen ins Leere lief – das Spiel endete 0:3. Es folgten eine 0:2-Pleite gegen Außenseiter Wales und die Niederlage gegen die Eidgenossen. Die türkischen Gazetten sparten freilich nicht mit Kritik. Fanatik titelte: „Das Ende! Die Euro 2020, die wir mit großen Hoffnungen begonnen haben, ist mit großer Enttäuschung zu Ende gegangen.“ Fotomac sprach von einer „Blamage“, Milliyet erklärte: „Wir sind nicht traurig, wir schämen uns.“ Und Takvim schrieb: „Wir waren die schlechteste Mannschaft des Turniers.“

Dabei sahen die Vorzeichen so gut aus: Die EM-Qualifikation hatten die Türken nur zwei Zähler hinter Frankreich abgeschlossen und waren in den direkten Duellen mit dem Weltmeister sogar unbezwungen geblieben (2:0, 1:1). Der Kader mit Stars wie dem Ex-Freiburger Caglar Söyüncü (25, Leicester), dem ehemaligen Leverkusener Hakan Calhanoglu (27, Wechsel von AC zu Inter Mailand seit gestern fix) oder Merih Demiral (23, Juventus) schien gerüstet für die EM. Calhanoglu bat um Verzeihung und sagte: „Wir haben unsere Fans sehr enttäuscht. Das hat uns wiederum sehr traurig gemacht.“ In der Türkei werden die Rufe nach der Entlassung von Coach Günes immer lauter, ihm werden falsche Aufstellungen, schlechte Taktiken und nicht zuletzt die katastrophalen EM-Ergebnisse vorgeworfen.

Günes, der die Türkei bei der WM 2002 auf einen sensationellen Platz drei geführt hatte, gibt offenbar aber (noch) nicht auf. „Aktuell denke ich nicht an einen Rücktritt. Man kann später darüber diskutieren und eine Entscheidung treffen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob es richtig ist, die Arbeit aufzugeben und wegzurennen“, sagte er. Vielmehr sprach Günes davon, dass diese Mannschaft „die nächsten zehn Jahre dominieren und Erfolge verbuchen“ werde. In der Tat stellten die Türken mit einem Altersdurchschnitt von 26,0 Jahren die jüngste Elf hinter England (25,1) und Spanien (25,5). Viele Spieler scheinen noch jede Menge Entwicklungspotenzial zu haben. Ob Günes zugetraut wird, diesen Reifeprozess zu moderieren, wird sich dann bei den kommenden Aufgaben zeigen.

Immerhin: In der Quali für die WM 2022 in Katar verbuchte die Türkei bisher Siege gegen die Niederlande (4:2) und Norwegen (3:0), zudem gab’s ein 3:3 gegen Lettland – womöglich bereits die Vorboten der schwachen EM. „Es ist wichtig, aus unseren Fehlern zu lernen und nach vorne zu schauen“, erklärte Calhanoglu. Klar ist: Dem türkischen Fußball stehen unruhige Wochen bevor.

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