Herzogenaurach/London – Kai Havertz (22) ist Pragmatiker. Klar: „Mit eigenen Fans wäre es schöner, denn so ist es ein Auswärtsspiel.“ Doch er denkt an die fast zwei Jahre der Stille in den Stadien, „da ist es doch toll, in so einer Atmosphäre spielen zu dürfen“. Havertz erwartet „Zuschauer, die nur gegen uns sind – aber das ist eigentlich ganz cool.“
Bei der pankontinentalen EURO erlebt die deutsche Nationalmannschaft heute (18 Uhr) den speziellen Fall, auf einen Gegner zu treffen, der – an diesem Abend – das Turnier-Heimteam ist. England im Wembley-Stadion. 43 000 englische Supporter und allenfalls 2000 deutsche, die Pandemie schafft diese Umstände. Auf dem Papier gerät die DFB-Elf in eine Außenseiterposition – doch ihre Geschichte besagt: Sie mag solche Konstellationen: Wir wenige gegen viele, am besten alle. 13 Mal musste Deutschland in der Geschichte der großen Nachkriegsturniere gegen den Gastgeber antreten. Bilanz: zehn Siege, nur drei Niederlagen.
Die waren: WM 1958, Halbfinale gegen Schweden, 1:3. Deutschland erlebt die bis dato in Europa unbekannte Einpeitscherkultur, Animateure mit Megafonen wiegeln das Publikum in Götborg auf. Erich Juskowiak wird als erster deutscher Nationalspieler vom Platz gestellt. WM 1966, die berühmte Finalniederlage (2:4 n.V.) in Wembley gegen England. EM 2016: ein 0:2 im Halbfinale gegen Frankreich in Marseille. Bastian Schweinsteiger verschuldet einen Handelfmeter, die spielerische Dominanz von Joachim Löws Mannschaft zerbröselt.
Bei den Siegen gegen Turnierausrichter denkt man sofort an 2014 und das Halbfinal-7:1 gegen Brasilien. Erfahrenen Spielern wie Miroslav Klose war schon bei der Hymne, als die Brasilianer das Trikot ihres verletzten Stars Neymar mit sich führten und die Töne herausbrüllten, klar, „dass die emotional überziehen“. Für Klose war es das zweite WM-Halbfinale gegen einen Gastgeber nach dem 1:0 zwölf Jahre zuvor in Südkorea. Da hatte das Überraschungsteam der WM sich kaputt gespielt, und die fanatisch-freundliche Unterstützung der Fans, die den Fußball gerade erst entdeckt hatten, half auch nichts mehr.
Eine der anspruchsvollsten deutschen Aufgaben war das Viertelfinale der WM 1986 in Mexiko. Thomas Berthold flog nach einer Stunde vom Platz, man musste die Verlängerung überstehen. Im Elfmeterschießen dann ein 4:1-Erfolg für Deutschland.
Die Turniermannschaft. In solchen Spielen begründete und festigte sie ihren Ruf. EM 1996: Elfmeter-Sieg gegen England im Halbfinale, (gerade war 25-Jähriges). EM 1992: 3:2 im Halbfinale gegen Schweden, Kalle Riedles Torjäger-Sternstunde. EM 1976: 4:2 n.V. gegen Jugoslawien, Debütant Dieter Müller mit drei Toren in Belgrad. EM 1972 das 2:1 in Belgien, Werk der Jahrhundert-Elf. Weitere Erfolge waren: 2:1 gegen Spanien bei der WM 1982 in der Zwischenrunde, 2:0 gegen Chile zum Abschluss der WM-Vorrunde 1962.
Unscheinbar wirkt das 1:0 gegen Österreich zum Vorrundenschluss der EM 2008 in Wien. Doch es steckte vieles drin: Mario Gomez’ nervöser Fehlschuss aus zwei Metern drüber, Joachim Löw auf die Tribüne verwiesen, Michael Ballacks Eruption nach Freistoßsiegtor. Der kniffligste, aber schönste Sieg des Turniers. GÜNTER KLEIN