Herzogenaurach – Typisch Joachim Löw ist, dass er mit seiner Ungenauigkeit bei Details kokettiert. 198 Spiele lang war er deutscher Chefbundestrainer, das stand in allen Zeitungen, jeder kennt die Zahl, weil oft genug gerechnet worden ist, ob er die 200 noch schafft. Löw sagt: „Ich glaub’, ich hab’ über 190 Spiele gemacht.“ Für ihn war es einfach nur „eine wahnsinnig lange Zeit mit vielen Turnieren“. Und für den 61-Jährigen zählt, wenn er nun zurückblickt auf (inklusive Assistenten-Rolle bei Jürgen Klinsmann) 17 Jahre das große Ganze. Wenn man so will: ein Vermächtnis.
„Wenn ich mich erinnere, wo wir 2006 und 2008 standen: Wochenlang haben wir überlegt, was wir verändern müssen und was es braucht, um dauerhaft in der Weltspitze zu stehen. In vielen Meetings stand über allem: Wir müssen unsere technischen Möglichkeiten und unsere Spielkultur verbessern.“ Titel seien ein Ziel, aber nicht das alleinige: „Wir wollten mit unserem Stil und Fußball viele Fans begeistern – und das haben wir geschafft.“ Aus dem südamerikanischen Drang zum guten Spiel – dem jogo bonito – wurde das Jogi bonito. Man brachte es mit dem Trainer der Deutschen in Verbindung, dass da plötzlich eine DFB-Elf auf dem Platz stand, die sich anderen Idealen verschrieben hatte als den kerndeutschen Tugenden des Grätschens, Kämpfens und Turniermannschaft sein. Und das bitte soll doch so bleiben, wünscht Löw sich, wenn er der Nationalmannschaft nunmehr aus der Perspektive des Fans folgen wird.
Seinen größten Erfolg hat er bei seinem vierten Turnier erzielt, der WM in Brasilien, 2014. Er ist überzeugt, dass dieser Triumph nicht möglich gewesen wäre ohne eine Schmach – oder das, was die Öffentlichkeit als eine solche bewertete: das von ihm vercoachte EM-Halbfinale 2012 in Warschau. „Diese Niederlage gegen Italien hat uns den größten Erfolg gegeben. Wir haben aus unseren Fehlern gelernt, mit Spielern wie Lahm, Schweinsteiger, Khedira und Klose habe ich mich danach eingeschworen.“
Die Pleite vor Warschau hat sich also nicht festgefressen in ihm, überraschenderweise würde er auch nicht das 0:2 gegen Südkorea in Kasan, das das Vorrundenaus bei der WM 2018 manifestierte, als schwerste Enttäuschung benennen. Sondern: Marseille, das EM-Halbfinale 2016 gegen Frankreich: „Wir hatten ein sehr gutes Turnier gespielt und eine Halbzeit ein tolles Spiel gemacht.“ Dann: Dummer Handelfmeter, Rückstand, die Partie entglitt. „Ich bin überzeugt: Wir wären Europameister geworden.“ Mit zwei Titeln hätte Löw seine Mission dann wohl auch als beendet gesehen – und alles, was auf unerfreuliche Art nachfolgte, wäre ihm erspart geblieben.
In den vergangenen vier Jahren sind die Fans seiner zunehmend überdrüssig geworden. Löws Nivea-Eitelkeit, die Tatsache, dass er einmal während eines Spiels an einem eingerissenen Fingernagel feilte oder sich seine Hand in die Hose verirrte, wurden in galligerem Ton kommentiert, als er sportlich und konzeptionell zu irrlichtern begann. Auch er erlebte Enttäuschungen: Dass sein Schützling Mesut Özil 2018, ohne ihn zu informieren, mit einem Tabula-rasa-Statement zurücktrat und wochenlang für den Förderer Löw nicht zu erreichen war, hat ihn getroffen. Es war eine andere Trennung als die von Michael Ballack oder Torsten Frings, deren DFB-Karrieren Löw selbst beendet hatte.
Zurück zum Vermächtnis: „Wir waren die Benchmark, aber es ist unglaublich schwierig, das über mehrere Turniere zu bleiben“, sagt Löw. Er hat es nicht vollbringen können. Dennoch: „Ich bin mit mir im Reinen.“