London/München – Fußball, so schön, so grausam. Doch erst auf den letzten Drücker entschied er, wem er sich im Finale der EURO2020 zuwandte. Die Entscheidung fiel im Elfmeterschießen: Italien gewann es 3:2 (nach 1:1), es nimmt den Fußball mit, den das Mutterland England sich erträumt hatte. Die 55 Jahre des Schmerzes werden verlängert. Auf grausamste Art: Wieder verlor England den Showdown vom Punkt – Trainer Southgates Joker Sancho, Rashford und Saka verballerten.
Innigster Wunsch aller, die in ein Finale gehen, ist das frühe Tor. Weil es verhindert, dass das Spiel zum Taktikgeschiebe und zum Abnutzungskampf gerät, bei dem jeder nur auf den Fehler des anderen wartet und nichts riskiert.
Die Engländer, mit sicht-, hör- und spürbarem Heimvorteil, gingen so schnell in Führung, dass man die Sekunden festhalten musste: 117. Also noch keine zwei Minuten waren um, als Luke Shaw eine Flanke von Trippier mit einem kernigen britischen Dropkick zum 1:0 für die Three Lions verwertete. Das Besondere an diesem Tor neben seinem Zeitpunkt: Shaw hatte in seinen bisherigen 16 Länderspielen noch nie getroffen, und mit Trippiers Aufstellung war ein taktisches Statement gesetzt worden: Italien hatte seine Erfolgsaufstellung nicht verändert, Gareth Southgate die seines Teams schon. Dreier- statt Viererkette, ein System, das das Mitwirken von Routinier Trippier erforderte. Und das genau bei diesem 1:0 funktionierte: Rechter Außen auf linken Außen.
Die Entschlossenheit und Ausrichtung, mit der die Engländer in dieses Finale gingen, war ein Problem für den Gegner, der sonst auf jede taktische Finesse eine Antwort hat. Doch die Italiener sahen nicht aus wie die Italiener, ihr Trainer Roberto Mancini zog sich eine Regenjacke über das Sakko. Funktionskleidung ist so unitalienisch.
In der 20. Minute musste Mancini um Jorginho bangen, weil sich für den ein Hochgeschwindigkeits-Zusammenstoß mit Raheem Sterling schmerzhaft gestaltete. Jorginho überstreckte sein rechtes Knie, er musste behandelt werden und brauchte eine Viertelstunde, bis er wieder rund laufen konnte. Doch er hielt durch.
Gegen England war im Turnier kein Tor aus dem Spiel heraus gefallen. Wie schwer es gegen einen Southgate-Riegel ist, erfuhren die Italianer in dieser ersten Halbzeit. Vielleicht über individuellen Wagemut? Chiesa schüttelte mal zwei Bewacher ab, sein 20-Meter-Schuss, knapp vorbei, war nicht schlecht (35.). Mittelstürmer Ciro Immobile versuchte sich an einer Direktabnahme (45.), sie wurde von Stones geblockt, den Nachschuss von Verratti pflückte Torwart Pickford souverän weg. England stand.
Doch das Tor war dem einzigen Schuss der ersten Halbzeit entsprungen. Würde das reichen? Das Blatt wendete sich, Italien erspielte sich seine Chancen. Der Wirbler Lorenzo Insigne, von Raheem Sterling gefoult, übernahm en Freistoß aus dankbaren 20 Metern selbst (51.) – viel fehlte nicht. In der 55. versuchte es Insigne über links, nur der Abschlusswinkel war etwas ungünstig. Italien war warmgespielt: Pickford musste was zeigen, um Chiesas Schuss (62.) abzuwehren. Italien näherte sich dem Ausgleich an – und realisierte ihn: Nach einer Ecke, das Werk eines der alten Innenverteidiger. Verratti hatte geköpft, Bonucci drückte den Ball über die Linie (67.) und sprang triumphierend auf eine Werbebande zum Posieren als Muskelmann. Körpersprache als Ansage: Spiel wieder offen. Italien war dominant. Aber der quirlig-kreative Chiesa musste verletzt raus (86.).
Die (vor)letzte Anstrengung: Verlängerung. Mit Momenten auf beiden Seiten, doch keiner zwingend genug. Die Teams hielten ihre Strukturen.
Die letzte Anstrengung: Elfmeterschießen. Lotterie, Können, Drama, schön, gausam. Alles.