Tokio/München – Dieses tückische Aufwärtstor, die Nummer 19. Gegen den Strom fahren, mit Muskelkraft sich selbst und das Boot aus der Wasserwalze befreien. An dieser einen Stelle im Kasai Canoe Slalom Centre hakte es, sowohl im Halbfinale als auch im Endlauf. „Es wäre schon noch mehr drin gewesen. Aber wenn man von der Linie weg ist, sind das gleich ein paar Sekunden“, sagte Sideris Tasiadis, der Slalomkanute aus Augsburg. Dennoch war der 31-Jährige ein glücklicher Mann: Bronze – seine zweite olympische Medaille nach Silber 2012 in London.
Seine Dramaturgie (von Platz sechs auf drei) war besser als vor fünf Jahren in Rio de Janeiro. Damals ging er als Führender ins Finale und enttäuschte sich mit einem missglückten Lauf und Platz fünf. Es war das einzige Mal in seiner Karriere, dass der Druck ihn besiegte. Alle hatten damals die neue Matthias-Steiner-Geschichte erwartet. Der Gewichtheber hatte 2008 Gold gewonnen und den Erfolg seiner verstorbenen Ehefrau gewidmet. Sideris Tasiadis’ Schicksal war ein ähnliches: Seine Lebensgefährtin Claudia Bär, auch sie Slalomkanutin, kämpfte mit ihm an der Seite gegen die Leukämie – und starb 2015, zehn Monate vor den Spielen in London.
Das Trainingsrevier von Polizeiobermeister Tasiadis ist der zu den Olympischen Spielen 1972 ausgebaute Augsburger Eiskanal. Obwohl die Umgebung und das Bootshaus seines Vereins, der Kanu Schwaben, ihn nahezu täglich an die Tragödie seines Lebens erinnern, führte er seine Karriere fort. Seine Hündin läuft neben der Strecke her, wenn er im Canadier – dem Boot, in dem man sitzt und es mit dem Stechpaddel fortbewegt – trainiert. Und Tasiadis fand eine neue Liebe. Denise, keine Kanutin, gab ihm ein Erdmännchen aus Stoff mit nach Japan.
Augsburg ist die deutsche Kanusalom-Hauptstadt, hatte schon 1957 in Karl-Heinz Englet ihren ersten Weltmeister. Sideris Tasiadis wurde 1990 als Sohn eines griechischen Ehepaars in Augsburg geboren, wusste aber gar nichts von der legendären Strecke mit dem aus dem Lech abgeleiteten Wasser, bis ihn mit elf sein Schulsportlehrer zum Augsburger Kajak-Verein brachte. Später wechselte er zu den Schwaben, mittlerweile ist der Kraftbolzen Weltranglisten-Erster im Canadier und schafft es, sich für Großereignisse verlässlich zu qualifizieren. Alles andere als ein Kinderspiel. „Früher“, erinnert sich der langjährige Kanuchef der Schwaben, Horst Woppowa, „hatten wir bei Olympia drei Startplätze pro Bootsklasse, jetzt ist es nur noch einer.“ So schaffte es Tasiadis’ Vereinskollege Alexander Grimm nach seiner Goldmedaille von Peking 2008 im Kajak (da sitzt man, und das Paddel hat zwei Blätter) nie mehr zu den Spielen – den Startplatz holte sich seitdem immer Hannes Aigner, der nächste Augsburger. Der ist in Tokio am Freitag dran. Ohne Fan Tasiadis. Der muss aufgrund der Corona-Regeln schon abgereist sein: „Ich hätte die Kollegen gerne angefeuert – komisch, wenn man als Teil des Teams dann schon daheim sein muss.“
Aber Augsburg wird 2022 das Zentrum der Kanuslalom-Welt sein. Zum Olympia-Jubiläum erhält es die WM, der Eiskanal mit seinen Beton-Buckeln wird gerade hergerichtet. „Wasser verändert sich schnell“, weiß Tasiadis, doch Augsburg ist er Tausende Male abgefahren. Aus Tokio dankte er „für die vielen Sprachnachrichten“ und grüßte ins Schwaben-Bootshaus am Start seiner Stammstrecke: „Danke, dass ihr mi runterg’jubelt habt’s.“
Das soll auch 2024 so sein. Paris, das hat Tasiadis festgelegt, peilt er noch an. „Wir sehen uns in drei Jahren.“