Gold-Glück und Tränen-Themen

von Redaktion

Ricarda Funk denkt an die Not in der Heimat und ihren verstorbenen Förderer

VON GÜNTER KLEIN

Tokio/München – Es dauert, bis Träume wahr werden. Ricarda Funk musste 29 werden, bis sie das erreicht hatte, wofür sie als Schülerin am Gymnasium gearbeitet hatte. Die neue Olympiasiegerin im Kanuslalom hat aufgeschrieben, wie es ihr früher ging mit ihrem Sport: „5.00 Uhr – der Wecker klingelt. Während meine Mitschüler noch im Land der Träume schlummern, absolviere ich erneut mit noch schläfrigen Augen meine erste Trainingseinheit. Ein Einstieg in den Tag, der zu Schulzeiten keine Seltenheit war. Das Verständnis bei Lehrern und Mitschülern fehlte überwiegend.“ Jetzt können die aber sagen: Ich habe Ricarda Funk unterrichtet. Oder: Ich war mit ihr in einer Klasse am Rheingymnasium Sinzig. Schon in aller Herrgottsfrühe war sie immer auf dem Fluss paddeln.

Ricarda Funk genießt nun die Berühmtheit der Athletin, die bei Olympia 2020/21 die erste Goldmedaille für das deutsche Team gewonnen hat. Es stehen zwar einige Erfolge in ihrer Vita – sie war Europameisterin, gewann WM-Medaillen und Weltcuprennen –, doch der Olympiasieg ist das Größte in ihrer Nischensportart. Favoritin war sie nicht. Sie ging als Achte ins Finale, paddelte die Bestzeit, zwei Kanutinnen kamen noch nach ihr. Als letzte startete Jessica Fox, der glamouröse australische Star der Szene, touchierte ein Tor, bekam Strafsekunden, Ricarda Funk hingegen erlebte „DEN Lauf, von dem ich immer geträumt habe“. Er war präzise, dynamisch, schnell. Sie selbst hatte den Idealzustand, den man beim Kanuslalom erreichen kann, so beschrieben: „Ein Tanz auf dem Wasser.“

Sie hat sich die Fähigkeit dazu erarbeiten müssen. Ihre Karriere musste dual verlaufen. Schule plus Sport. Wenn sie morgens um fünf auf dem Wasser war und in nächster Zeit Klausuren anstanden, „habe ich mir die Lernzettel in Klarsichthüllen aufs Boot geklebt“. Nun hat Funk die Gewissheit, dass sie ihren Sport professionell und ohne wirtschaftliche Sorgen betreiben kann – der Status einer geförderten Sportsoldatin sichert sie ab, muss allerdings auch immer wieder durch Leistung bestätigt werden.

Um es in Deutschland im Kanuslalom zu etwas zu bringen, muss man nach Augsburg oder Markleeberg bei Leipzig. Ricarda Funk paddelt seit zehn Jahren auf dem Augsburger Eiskanal, sie nennt Augsburg „meine zweite Heimat“. Doch sie ist Mitglied in ihrem alten Kanuclub Bad Kreuznach geblieben und fühlt sich ihrer Region verbunden: Ahrtal – es steht in aktuellem Kontext: Hochwasser-Tragödie.

Sie war schon in Japan, als ihre Heimat unter Wasser stand und Menschen alles verloren. Ricarda Funk, inzwischen Kommunikationswissenschaftlerin, unterstützte Spendenaufrufe. Bilder hatten sie „stündlich erreicht, ich habe einige Male Tränen vergossen, weil es einfach unfassbar war“. Ihre Familie lebt in dem Gebiet, war aber nicht direkt betroffen. Ricarda Funk konnte vorerst nicht mehr tun als „viel Liebe nach Hause zu schicken. Ich sage nur: Kreis Ahrweiler ist stark, und gemeinsam schaffen wir das.“

Schon einmal hat sie ein Drama aus der Ferne miterleben und verarbeiten müssen: 2016 starb während der Olympischen Spiele in Rio, für die sie nicht qualifiziert war, ihr damaliger Trainer Stefan Henze mit erst 35 Jahren bei einem Autounfall. Die Angehörigen spendeten seine Organe. Zur Freude über Gold 2021 gehört auch die Trauer, dass sie es nicht mit ihrem Förderer erarbeiten konnte. „Stefan ist überall mitgefahren, auf meiner ganzen Reise, bei jedem Wettkampf und in jedem Training.“ Sie bilde sich ein: „Er gibt mir immer noch Tipps.“

Den Ratschlag, den sie am Dienstag in Tokio vernahm, war dann: Risiko, alles in diesen Lauf legen, damit es der ihres Lebens wird.

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