Hamburg – Ein Tor, das keines war, erhitzt immer noch die Gemüter. Am heutigen Freitag jährt sich das Endspiel der WM 1966 zum 55. Mal, bis heute wird mit großen Emotionen – vor allem im Fußball-Mutterland England und in Deutschland – über jenen Treffer von Geoff Hurst gesprochen, der zwar vom Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst nach Rücksprache mit seinem Linienrichter Tofik Bachramow in der Verlängerung zum 3:2 gegeben wurde. Doch laut wissenschaftlichen Untersuchungen war der Ball nicht komplett hinter der Linie.
„Natürlich war der Ball nicht drin, das ist längst klar und das Thema inzwischen abgehakt“, sagte einst der inzwischen verstorbene damalige deutsche Torwart Hans Tilkowski im Brustton der Überzeugung. Auch DFB-Ehrenspielführer Uwe Seeler (84) stimmt ihm zu. „Ich stand hinten am Strafraum und habe genau gesehen, dass der Ball nicht hinter der Linie war“, betonte Seeler.
Unverständnis herrscht bei ihm bis heute vor. „Die Aufregung war bei uns allen groß. Wir wussten zuerst ja gar nicht, was los ist. Keiner von uns hat die Entscheidung auf Tor verstanden“, erzählte Seeler: „Die verstehe ich heute immer noch nicht. Es war kein Tor.“
Seeler, Beckenbauer, Haller, Overath und Co. erwiesen sich jedoch als faire Verlierer, nahmen die 2:4-Finalniederlage gegen die Three Lions nach Verlängerung so hin. Statt Seeler nahm der englische Kapitän Bobby Moore den Coupe Jules Rimet aus den Händen von Königin Elizabeth II. in Empfang. Es blieb der einzige große internationale Titel für die Engländer, nachdem am 11. Juli dieses Jahres wieder in Wembley das englische Team im EM-Endspiel gegen Italien (1:1 n.V., 2:3 i.E.) den Kürzeren zog.
Diese vermaledeiten Momente von 1966 lassen Seeler aber bis heute nicht los. Der Schuss, das Klatschen des Balles ans hölzerne Gebälk des Tores, der verhängnisvolle Pfiff von Schiri Dienst.
Rückblick: 30. Juli 1966, WM-Endspiel in Wembley, Verlängerung. Es läuft die 101. Minute, als Hurst sich ein Herz fasst und aus kurzer Distanz abzieht. Der deutsche Torhüter Hans Tilkowski ist geschlagen, der Ball prallt von der Unterkante der Querlatte zurück auf den Rasen und wird vom Kölner Verteidiger Wolfgang Weber ins Aus geköpft. Nachdem Bachramow gestenreich genickt und den Ball komplett hinter der Torlinie gesehen haben will, zeigt Dienst zum Anstoßpunkt im Mittelkreis. Der Treffer zählt – ein Schock für die Deutschen.
Über kein anderes Tor – oder Nicht-Tor – ist so ausführlich diskutiert und geschrieben worden wie über den Treffer von Wembley. Ganze Generationen redeten sich bei diesem Thema die Köpfe heiß.
Selbst der Schiedsrichter konnte im Nachgang nichts zur Aufklärung beitragen. „Ich weiß auch heute noch nicht, ob der Ball drin war. Und wenn sie mich nach 100 Jahren wieder ausgraben und ich komme auf die Welt, werde ich es immer noch nicht wissen“, sagte Dienst später.
Torschütze Hurst, der 1998 von der Queen geadelt wurde, verweigerte lange jegliche Äußerung zu den entscheidenden Sekunden. Dann schrieb er ein Buch mit dem Titel „1966 and all that (1966 und das alles)“. „Die Deutschen glaubten aufrichtig, dass der Ball die Linie nicht überschritten hatte. Nachdem ich immer wieder alle Argumente gehört und die Zeitlupe Hunderte Male gesehen habe, muss ich einräumen, dass es aussieht, als hätten sie recht“, erklärte Sir Geoff darin.
Um jedoch nicht als Verräter zu gelten, folgt ein kleiner Zusatz: „Sofern nicht jemand das Gegenteil beweist, stimme ich mit den Herren Dienst und Bachramow überein.“
Im heutigen Profifußball sind derlei Diskussionen dank der modernen Torlinientechnik eher unwahrscheinlich. Auch wenn Fußball-Romantiker sich gerne an Zeiten erinnern, als noch keine Torkamera im Einsatz war. Ihr Argument: Was wäre der Fußball ohne das Wembley-Tor …?
Ganz unrecht haben sie nicht. sid