Pierre de Coubertin sah die von ihm begründeten Olympischen Spiele der Neuzeit als „zeremonielle Feier männlichen Athletentums“ an, angespornt von „weiblichem Applaus als Belohnung“. 2021 sieht das zum Glück anders aus. Noch nie haben so viele Frauen an Olympia teilgenommen. Boxpionierin Regina Halmich (44) über die Frauen-Power in Tokio.
Frau Halmich, Nadine Apetz hat als erste deutsche Frau bei Olympia geboxt und quasi Ihr Erbe angetreten.
Ich habe mich wahnsinnig für Nadine gefreut. Schade, dass sie in der ersten Runde rausgeflogen ist. Aber sie hat Geschichte geschrieben. Hoffentlich können wir darauf aufbauen, und schon bald wird es die Nächste schaffen.
Apetz hat jedoch ihr Karriereende verkündet. Zu Ihrer Zeit haben Sie befürchtet, dass der Zauber im Frauenboxen vorbei sein würde, sobald Sie aufhören.
Der Zauber ist noch nicht vorbei. Das Frauenboxen ist stark wie nie. Aber leider nur international. In Deutschland haben wir komplett den Anschluss verloren. Es ist nicht so, dass es keine Talente gibt. Aber die finanzielle Förderung des Nachwuchses fehlt komplett. Und Fernsehsender, die unseren Sport übertragen.
Wie sehr mussten Sie sich damals durchboxen?
Ich wurde anfangs überhaupt nicht ernst genommen. Jedes Mal die gleichen Fragen der Journalisten: „Warum muss eine Frau überhaupt boxen?“ Das war einfach ermüdend. Ich habe mir als Pionierin aber dann ein Stammpublikum aufgebaut. Bis heute kennt jeder den Namen Regina Halmich und verbindet ihn mit dem Boxen.
Sieben der neun deutschen Goldmedaillen haben Frauen geholt. Ein Zeichen für mehr Diversität?
Es war ein Plädoyer auf der größten Bühne überhaupt für Chancengleichheit. So langsam begreifen die Leute, dass Vielfältigkeit etwas Wunderbares ist. Es liegt immer noch so viel im Argen. Manchmal werde ich müde, über all die Themen immer wieder sprechen zu müssen. Aber es ist nun mal verdammt wichtig, weiter auf die Missstände hinzuweisen.
Die deutschen Turnerinnen haben einen Ganzkörperanzug getragen. Simone Biles hat offen über mentale Probleme gesprochen. Wichtige Schritte?
Ich finde es unverschämt, dass Funktionäre bestimmen wollen, wie sexy Frauen auftreten müssen. Die Kleidung hat ja auch nichts mit Funktionalität zu tun, das grenzt schon an Voyeurismus. Die Aussagen von Simone Biles waren ein ganz starkes Zeichen. In unserer Gesellschaft muss jeder funktionieren. Dabei hat jeder schwache Momente, auch Leistungssportler. Über Themen wie Depression muss offener gesprochen werden.
Aline Rotter-Focken sagte nach ihrem Olympia-Sieg: „Es ist vollkommen egal, welche Sportart du betreibst. Du kannst es auch als Frau.“
Aline und ich haben so viel gemeinsam. Wir wissen, welche Vorurteile es bei Frauen im Kampfsport gibt. Wir wissen, dass es eine Frau immer doppelt so schwer hat. Aber welch schöneren Beweis gibt es als einen Olympiasieg? Ich hatte immer Kritiker. Aber ich wusste auch, wie ich sie verstummen lassen kann: mit kontinuierlich guter Leistung.
Interview: Nico-Marius Schmitz