Die verlorene Heimat

von Redaktion

Nördlingen und der berühmte Sohn taten sich lange schwer miteinander – Späte Versöhnung

VON GÜNTER KLEIN

München – Gerd Müller zögerte in den Wochen vor jenem 19. Juli 2008: Sollte er wirklich kommen? Wollte er diesen Rummel? Wäre das wirklich eine Versöhnung mit einem Teil seiner Vergangenheit oder doch nur eine Inszenierung, die andere ins Licht stellt – so wie das zu oft gewesen war, wenn er in der Heimatstadt auftauchte?

Doch die Freunde sagten: Das kannst du nicht bringen, denn dieser Tag ist für dich. Nördlingen benannte das Stadion am Rieser Sportpark, in dem Gerd Müller als junger Bursche für den örtlichen TSV 1861 gespielt hatte, in Gerd-Müller-Stadion um. Sein FC Bayern hatte für ein Freundschaftsspiel zugesagt, auch die von Jürgen Klinsmann trainierten Profis traten zu Ehren von Gerd an. Na gut, dann kam er eben, mit Frau Uschi und Tochter Nicole, war nervös und verlegen – und am Ende doch stolz und gerührt. Diese Ehrung konnte er sich gefallen lassen.

Durch Gerd Müller kannte die Republik die 20 000-Einwohner-Stadt Nördlingen im Ries, Regierungsbezirk Schwaben. Müller hatte den Dialekt seiner Geburtsstadt nie abgelegt. Für die Medien lieferte er dadurch einen besonderen Reiz, einen wunderbaren Kontrast: Provinz – Weltstar. Und es war unbestritten, dass Nördlingen seinen Anteil hatte am fußballerischen Werdegang des Stürmers, den sein späterer Mitspieler beim FC Bayern und in der Nationalmannschaft, Paul Breitner, „das größte Genie, das ich im Fußball je gesehen habe“, nannte. Er spielte auf dem Kopfsteinpflasterplatz am Stenglesbrunnen (zwischen Geburtshaus und späterer Wohnung) und bei einem Freund in der Backstube der Eltern auf umgedrehte Teigschüsseln, in den Verein kam der Straßenkicker erst mit zwölf Jahren. Legendär wurde seine Saison 1962/63, in der er 17 wurde, mit der Nördlinger Jugend. Er schoss 180 von 204 Toren, inklusive der Freundschafts- und Pokalspiele, so Müllers Jugendfreund Martin Jeromin, dürften es 240 Treffer gewesen sein. Über die Bayern-Auswahl machte er die großen Vereine auf sich aufmerksam.

In der ersten Müller-Biografie, erschienen 1969, schreibt Autor Tony Schwaegerl von den Interessenten 1. FC Nürnberg, VfB Stuttgart, 1860 München, SpVgg Fürth, Schwaben Augsburg. Der FC Bayern mischte sich erst kurzfristig ein. Die Verpflichtung, so Schwaegerl, sei „spannend gewesen wie ein kleiner Durbridge. Während die Bayern-Manager in einem Lokal warteten, verhandelte ein Repräsentant des Konkurrenzvereins 1860 München in Müllers Wohnung.“ Der Umworbene räumte später ein, den Überblick verloren zu haben, wer von welchem Verein kam. Bayern, Sechzig – er hatte keine Präferenz. Er entschied pragmatisch: 1860 war Bundesligist mit einer Offensivfraktion der großen Namen dieser Zeit: „Heiß, Grosser, Brunnenmeier, Küppers – da hätte ich keine Chance gehabt zu spielen.“ Die Bayern waren ambitionierter Regionalligist. Bei denen würde er drankommen. 1861 Nördlingen bekam 4400 D-Mark Ablöse, den Vertrag musste Mutter Müller unterschreiben, denn Gerd war noch keine 21 und nicht volljährig nach damaliger Gesetzgebung.

War Nördlingen berauscht von der sich anbahnenden Karriere Müllers? Nein, die Stadt war gekränkt, so Biograf Schwaegerl. „Man hatte wenig Verständnis dafür, dass jener Spieler, der den Verein nun in die Erste Amateurliga geschossen hatte, plötzlich seinen Tornister packen wollte. Dass einer wegen ein ,paar Mark’ seine Freunde einfach im Stich lassen und in das große München ziehen wollte, das erregte den Unwillen der Fußballfreunde. Es war, als habe Gerd Müller dem ganzen Städtchen eine Schmach zugefügt.“ Der gelernte Weber, der als Schweißer gearbeitet hatte, wurde für die Nördlinger zum Fremden, als er 1964 ging.

Den Riesern war auch Uschi Ebenböck suspekt, die Gerd 1965 am Münchner Ostbahnhof beim Kaffeetrinken in einer Tchibo-Filiale kennenlernte. Die Unternehmerstochter wurde Müllers Frau und Managerin. Man verdächtigte sie, den „Hadde“ (so nannte man ihn daheim, abgeleitet vom zweiten Teil seines Vornamens Gerhard) von Nördlingen zu entfremden. War Müller dann doch mal in Nördlingen, fühlte er sich bedrängt, vereinnahmt, für Werbezwecke missbraucht. Kontakt hielt er nur zum Möbelhändler Karl Höhn, für den er Autogrammstunden gab oder mit dem anderen Gerd Müller, dem CSU-Politiker, der später Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit bei Angela Merkel wurde, tischkickerte. Gerds Vater Johann Heinrich, Kraftfahrer von Beruf, war schon 1963 gestorben, Karoline, die geliebte Mutter, im März 1983. Zu ihrer Beerdigung kam Gerd Müller erst, als der offizielle Teil vorbei war. Eine kühle Absage erhielt die Stadt, als sie ihn 2000 in einem Eisenwarengeschäft als Nördlinger Sportler des Jahrhunderts auszeichnen wollte. Als 2004 sein Mentor Karl Höhn starb, rissen die Verbindungen ins Ries. Bis zur Versöhnung 2008.

Die unbeschwerten Nördlinger Zeiten und die überschatteten – beide hat Gerd Müller wohl irgendwann vergessen in den letzten Jahren seines Lebens.

Nächster Teil: Tore waren Gerd Müllers Währung, sein Lebenselixier und sein Geheimnis.

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