Wie ein Para-Bogenschütze eine Nilpferd-Attacke überlebte

von Redaktion

Tokio – Wenn Philip Coates-Palgrave, 50, auf sein Leben zurückblickt, beschreibt er sich selbst so: „Als ich noch zwei Beine hatte, war ich ein fauler Typ, völlig unnütz.“ Ein Sportler sei er nie gewesen. „Aber eines Tages fand ich, dass das jetzt genug war. Vor fünf Jahren hab ich dann entschieden, dass ich zu den Paralympics will.“

Der Südafrikaner erzählt dies mit einer Ruhe, als wäre völlig klar, dass es sich um einen Entschluss handelt, den man nur treffen muss, dann würde es schon gelingen. Aber vielleicht kommt man automatisch zu solch einer pragmatischen Gelassenheit, wenn man schon als junger Mann in eine Situation geraten war, in der kaum noch Überlebenschancen zu bestehen schienen.

Im Jahr 1995, als der damals Coates-Palgrave noch als Guide in Zimbabwe arbeitete, fuhr er Touristen auf einem Kanu durch den Fluss Sambesi. Plötzlich kollidierte er mit einem Nilpferd, das daraufhin den Fahrer angriff. Der damals 24-Jährige wurde ins Wasser gerissen, kämpfte gegen das übermächtige Tier, versuchte, es von seinen Fahrgästen im Boot fernzuhalten. Ungefähr drei Minuten dauerte der Kampf um sein Leben. „Ich trat zweimal zu. Aber dann merkte ich, dass ich keine Chance hatte. Ich dachte, er erledigt mich.“

Als das Nilpferd ihn angriff, habe es sich angefühlt wie bei einem früheren traumatischen Erlebnis, als Coates-Palgrave von den Stromschnellen der Victoriafälle unter Wasser gezogen wurde. „Ich hatte sofort diesen Flashback.“ Und dann wollte er aufgeben. „Es war eine ähnliche Naturgewalt, gegen die man keine Chance hat zu kämpfen. Als ich das merkte, hörte ich auf, noch etwas zu versuchen.“ Coates-Palgrave hielt die Luft an, in der diffusen Hoffnung, er würde doch noch an die Wasseroberfläche gelangen. „Je länger du deinen Atem sparen kannst, hilft es dir, jeden einzelnen Muskel in deinem Körper zu entspannen.“

Tatsächlich ließ das Nilpferd von ihm ab. „Es dachte wohl, es hätte mich getötet.“ Als er aufs Boot gezogen wurde, war Coates-Palgrave noch lange nicht gerettet. 25 Stunden lang dauerte eine Fahrt zum Krankenhaus in Zimbabwes Hauptstadt Harare. Dort blieb er monatelang in chirurgischer Behandlung, bis schließlich das linke Bein doch amputiert wurde. Danach folgte eine langwierige Genesung, körperlich und mental.

Vor fünf Jahren, mit Mitte 40 also, suchte sich Coates-Palgrave einen Sport, in dem es ihm möglich schien, sich auch in relativ hohem Alter noch für die Paralympics zu qualifizieren. Es müsste also eine Disziplin sein, bei der es nicht auf körperliche Explosivität oder Ausdauer ankäme. Coates-Palgrave entschied sich letztlich fürs Bogenschießen.

Mit 50 Jahren gehört der Südafrikaner nun wohl zu den ältesten Debütanten, die es bei Paralympics je gegeben hat. Chancen auf eine Medaille hat er in Tokio wohl kaum. Im Teilnehmerfeld sind sieben frühere paralympische Medaillengewinner. „Aber beim Bogenschießen trittst du nicht gegen andere an“, sagt Coates-Palgrave. „Du trittst gegen dich selbst an.“ Und dass er auf dem Papier der vielleicht am wenigsten aussichtsreiche Bogenschütze ist, beeindrucke ihn auch nicht allzu sehr. „Wir sind alle auf demselben Niveau, was den Umgang mit Pfeil und Bogen angeht. Meine Konkurrenten haben nur deutlich mehr Erfahrung.“

Vor seinem paralympischen Debüt an diesem Freitag gibt Coates-Palgrave allerdings zu, ein bisschen nervös zu sein. „Es wird ein harter Wettkampf. Ich versuche die ganze Zeit, meine Emotionen unter Kontrolle zu haben und ruhig zu bleiben.“ Fähigkeiten, die ihn schon in einer viel brenzligeren Situation gerettet haben. FELIX LILL

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