Melbourne – An seiner Verbundenheit zu Novak Djokovic lässt Boris Becker keinen Zweifel – er würde seinen ehemaligen Schützling sogar „fast als Familie betrachten“. Doch die irre Einreise-Posse in Australien um den besten Tennisspieler der Welt, der in einem Abschiebehotel in Melbourne auf die Gerichtsverhandlung am Montag über seine Ausweisung wartet und auch das orthodoxe Weihnachtsfest isoliert verbrachte, lässt dessen früheren Trainer nur kopfschüttelnd zurück. „In diesem Fall denke ich, dass er einen großen Fehler begeht, wenn er sich nicht impfen lässt“, schrieb Becker in einem Gastbeitrag für die englische Zeitung Daily Mail.
Und dieser Fehler beschränke sich längst nicht nur auf die Australian Open (ab 17. Januar), bei denen der ganz offensichtlich ungeimpfte Djokovic mit einer medizinischen Ausnahmegenehmigung seinen Titel verteidigen will und über Anwälte um seinen Start kämpft. Nein, dieser Fehler bedrohe auch „den Rest seiner Karriere und seine Chance, seine Rolle als größter Spieler aller Zeiten zu zementieren“, wie Deutschlands Tennis-Ikone meinte.
Das empfinden Djokovic, der unter Becker von 2014 bis 2016 sechs Grand-Slam-Titel gewann, und seine erboste Familie ganz anders. Diese sehen sich in der Opferrolle und sorgten mit einer von Djokovics Vater Srdjan angeführten Protestinszenierung für Verwunderung. „Jesus wurde gekreuzigt und hat es ertragen. Novak wird nun auf die gleiche Weise gekreuzigt, er wird durchhalten“, sagte Srdjan Djokovic am Donnerstag auf einer kruden Pressekonferenz in Belgrad. Zudem behauptete er, sein Sohn werde in Melbourne „in einem Gefängnis“ gefangen gehalten. Anschließend führte er vor dem serbischen Parlament mit Megafon eine Demonstration von Fans an.
Es waren Aussagen, die die australische Regierung so nicht auf sich sitzen lassen will, weshalb Innenministerin Karen Andrews am Freitag reagierte. „Herr Djokovic wird in Australien nicht gefangen gehalten, es steht ihm frei, jederzeit auszureisen“, sagte sie gegenüber australischen Medien. „Und der Grenzschutz wäre ihm dabei auch behilflich.“
Djokovic selbst meldete sich am Freitag erstmals selbst zu Wort – via Instagram. Er bedanke sich bei „Menschen auf der ganzen Welt für ihre anhaltende Unterstützung. Ich kann es fühlen, und ich weiß es sehr zu schätzen.“
Laut Innenministerin Andrews habe Djokovic, der sich schon mehrmals als Impfgegner positioniert hatte, zwar ein Visum ausgestellt bekommen. Aber die Grenzbehörden hätten nach der Ankunft des Grand-Slam-Rekordchampions festgestellt, dass dieser die Einreisebedingungen nicht erfülle, weil er nicht vollständig geimpft sei. Auch einer von Covid-19 genesenen tschechischen Spielerin, die sich schon seit Dezember im Land befindet, wurde laut „ABC News“ das Visum entzogen.
Es handelt sich um die 38-jährige Renata Voracova. Die Doppelspezialistin hatte an einem Vorbereitungsturnier auf die Australian Open teilgenommen. Sie soll mit einer Befreiung von der Impfung eingereist sein, weil sie sich in den letzten sechs Monaten mit Corona infiziert habe. Sie ist im selben Hotel wie Djokovic untergebracht. Ob sie gegen die Entscheidung der Behörden vorgeht, ist nicht bekannt. Zudem soll es einen dritten Fall eines Turnieroffiziellen geben.
Mittlerweile zeichnet sich ein immer klareres Bild ab, wie das Chaos um Djokovic zustande kam. Tennis Australia (TA), Ausrichter des ersten Grand-Slam-Turniers des Jahres, soll schon im November von der nationalen Regierung schriftlich darauf hingewiesen worden sein, dass eine überstandene Covid-Erkrankung in den vergangenen sechs Monaten nicht automatisch zur Einreiseerlaubnis und der Befreiung von der Impfpflicht führt. Die vom Bundesstaat Victoria und TA erteilte medizinische Ausnahmegenehmigung für Djokovic soll diesen zwar zur Teilnahme an den Australian Open berechtigen, aber nicht zur Einreise. Australischen Medien zufolge habe Djokovic aber am Flughafen auf eine Genesung verwiesen. Jacinta Allan, Kabinettsmitglied in Victoria, versicherte am Freitag, dass sie und ihre Kollegen nichts von dem Briefwechsel zwischen der nationalen Regierung und Tennis Australia wussten.
Während eine positive Wendung für Djokovic hinsichtlich der Australian Open so weiter unwahrscheinlich ist, geht der sorgenvolle Blick von Boris Becker schon viel weiter. „Tatsache ist, dass wir in einer anderen Welt leben“, schrieb er: „Und es wird ihm sehr schwerfallen, das Leben eines professionellen Tennisspielers zu führen, der ohne Impfung herumreist.“ sid