Kitzbühel – Um bei einer Weltcup-Abfahrt die eigene Leistung einzuschätzen, bedarf es nicht unbedingt den Blick auf die Anzeigentafel. Andreas Sander wusste am Sonntag in Kitzbühel schon vor dem Abschwingen im Zielraum, dass seine Fahrt „sehr, sehr schlecht“ war. Lange Zeit rangierte er anschließend auf dem letzten Platz, mit etwas Abstand zu den beiden vor ihm platzierten Athleten, ebenfalls Deutsche.
Am Ende der zweiten Abfahrt von Kitzbühel, die der Schweizer Beat Feuz vor seinem Teamkollegen Marco Odermatt gewann, sah es dann etwas freundlicher aus: Romed Baumann landete auf dem 15. Platz, Josef Ferstl wurde 20, Dominik Schwaiger 22. und auch für Sander gab es für den 30. Platz noch einen Weltcup-Punkt. Aber alle waren weit entfernt von den eigenen Ansprüchen. Nicht nur bei der letzten Abfahrt vor dem Höhepunkt, den Olympischen Spielen in Peking. „Im Prinzip“, sagt Cheftrainer Christian Schwaiger, „ist die ganze Saison verkorkst.“ Nichts mehr ist übrig geblieben vom Selbstbewusstsein der vergangenen Saison, als Sander bei der WM in der Abfahrt und Baumann im Super-G Silber gewannen. Schwaigers Vermutung: „Sie können teilweise mit der Erwartungshaltung nicht umgehen.“
Dies trifft aber nicht nur auf die Abfahrer zu, sondern auch auf Linus Straßer, der nach seinem 14. Platz im Slalom die anspruchsvolle Piste am Ganslernhang als „Schweinsberg“ bezeichnete. Er holte zwar zum ersten Mal seit 2015 wieder Punkte in seiner Wahlheimat, aber er habe „zu viel runtergebremst“, sei im zweiten Durchgang „taktisch gefahren“, um nicht auszuscheiden, gab der Münchner zu. „Wenn ich mit vielen guten Resultaten hierherkomme, kann ich anders riskieren.“ Straßer hatte bis Kitzbühel heuer überhaupt erst ein gutes Ergebnis geschafft, den 3. Platz von Adelboden.
Dass es nicht unbedingt mit den Vorleistungen zusammenhängen muss, bewies Dave Ryding, der für den ersten Weltcup-Sieg eines Briten bei den Alpinen sorgte. Der 35-Jährige hatte bis Kitzbühel eine ähnlich durchwachsene Saison wie Straßer und fand trotzdem die richtige Dosis Risiko.
Die Passivität zieht sich durch das gesamte Männerteam. Christian Schwaiger vermutet bei seinen Athleten „eine gewisse Hemmschwelle, ans Limit zu gehen“. Auch wenn es ein paar Lichtblicke gab: Die 4. Plätze im Super-G von Sander in Beaver Creek und Baumann in Wengen oder der 5. Platz von Schwaiger in Bormio. Ebenfalls ist es ein Erfolg, dass sich gleich fünf Abfahrer für die Winterspiele qualifiziert haben. Aber es waren eben auch viele mittelmäßige oder gar schlechte Platzierungen dabei. Alpinchef Wolfgang Maier fragt sich, „ob sich die Athleten bewusst sind, dass immer die Limits gefordert sind und man sich nicht immer auf Cortina beziehen kann.“ Auf die Erfolge bei der WM 2021, meint er.
Auch damals waren die Deutschen ohne Podestplatz zum Großereignis gefahren, gehörten allerdings aufgrund einer Reihe von guten Ergebnissen zum Kreis der Medaillenaspiranten. Jetzt dürfe man „nur nicht verkopfen oder irgendeinen Hokuspokus machen“, sagt Baumann. Sich aber darauf zu verlassen, dass sich wieder rechtzeitig der Knoten löst, das klappe nicht, so Trainer Schwaiger. „Wenn wir so fahren wie jetzt, sind wir weit weg von einem Geheimfavoriten.“ Deshalb müsse jetzt „Tacheles geredet“ werden.
Das deutsche Speedteam fliegt am Mittwoch nach Peking, eine gute Woche bevor der erste Trainingslauf für die Olympia-Abfahrt angesetzt ist. Zeit genug für Schwaiger, seine Athleten wieder zurück in die Spur zu bekommen.