München – Nächste Woche Freitag starten die Olympischen Spiele in Peking. Auch aus medizinischer Sicht sind noch viele Fragen offen. Der Pharmakologe Fritz Sörgel (72) gibt im Interview mit unserer Zeitung die wichtigsten Antworten.
Herr Sörgel, eine Olympia-Blase ohne Omikron-Fall. Ist das möglich?
Nein, das ist unrealistisch. Die Lage ist so verzwickt, dass selbst kurz vor Abflug getestete Personen bei ihrer Ankunft 24 Stunden später positiv sein können. Ansteckungen komplett zu verhindern ist nicht möglich. Und: Wir lernen in dieser Pandemie immer noch von Tag zu Tag, wir haben längst noch kein abgeschlossenes Bild von diesem Virus und seinen Invasionstricks.
In den vergangenen Wochen ist ein Diskurs um den CT-Wert aus den PCR-Tests entstanden, der entscheidet, ob eine Probe positiv ist oder nicht. In Europa liegt er bei 30, bei der WHO bei 35, in China bisher bei 40. Was ist das Problem?
Der CT-Wert gibt an, wie oft ich die Erbinformation des Virus in einem Reagenzglas künstlich mit Enzymen vermehren muss, bis die Lösung sich verfärbt. Corona-Infizierte, die in Deutschland im Krankenhaus landen, haben meist einen CT-Wert deutlich unter 20. Generell gilt: Je kleiner der Wert, desto infektiöser der oder die Infizierte. Wenn ich den Vermehrungszyklus aber 40-mal durchführen muss, bis etwas passiert, hat die Person nur eine sehr niedrige Viruslast in sich. Die Gefahr ist, dass spätestens ab einem Wert von 35 nur noch Bruchstücke, die auch sehr lange nach einer Infektion vorhanden sein können, übrig sind. Nach den Einwürfen der Verbände hat man jetzt aber den Wert 35 akzeptiert, aber mit erheblichen Einschränkungen und zusätzlich Tests.
Der strenge Wert basiert auf Chinas Zero-Covid-Politik, richtig?
Ja. Wenn ein BMW-Mitarbeiter, der am Produktionsband arbeitet, zur Sicherheit mehrtägig in Isolation geht, ist das vertretbar. Der kommt danach wieder und macht einfach weiter. Aber Athleten beraubt man durch diese überzogene Regelung unter Umständen des größten Erlebnisses ihrer Karriere. Bei den Sommerspielen in Tokiowurden übrigens nur Schnelltests gemacht – das kann man sich jetzt ein paar Monate später gar nicht vorstellen. Bei positiven Schnelltest war dann der folgenden PCR-Test mit einem CT-Wert unter 40 positiv. Aber damals dominierte noch die Delta-Variante und nicht Omikron und wir waren in einer anderen Phase der Pandemie.
Das klingt alles so als würden Sie die Austragung der Spiele für durchaus vertretbar halten?
Das IOC will es. China will es. The Show must go on. Die Chinesen und das IOC sagen, die Welt ist durch die Spiele nicht gefährdet.
Anderer Fall. War Novak Djokovic eine Gefahr für Australien? Hätten Sie ihn bei den Australian Open spielen lassen?
Es ist schon eine schwierige Gemengelage: einerseits fehlt mir das Vertrauen, dass Djokovic tatsächlich Corona positiv war und damit das Recht hatte, nach Australien zu fliegen. Andererseits haben die Australier, Politik und Tennisverband das Ganze an die Wand gefahren. Er hätte gar nicht abfliegen dürfen. Ich bin dafür, sich impfen zu lassen. Und viele Handlungen von Herrn Djokovic, die Adria-Tour bei Pandemiebeginn zum Beispiel, heiße ich nicht für gut, er ist kein Vorbild für die Jugend. Die Fairness gebietet es aber auch festzustellen, dass er im Prozess zu einer Feindfigur gemacht wurde, an dem ein Exempel statuiert werden sollte.
Novak Djokovic hat als Grund für seine Einreise-Ausnahmegenehmigung – es dürfen nur Geimpfte nach Australien – nur einen positiven Test aus dem Dezember vorgebracht. Und der steht im Verdacht, gefälscht gewesen zu sein.
Wie gesagt, dem Corona-Test traue ich nicht.Aber wie hätte man ihm diesen angeblichen Betrug in so kurzer Zeit vor Gericht stichhaltig nachweisen können? Mir war die Begründung, er könne ein Vorbild für die Impfverweigerer werden, einfach zu dünn. Das ist eine Spekulation aber keine Grundlage für eine Verurteilung. Ich könnte mir vorstellen, dass er im deutschen Rechtssystem freigesprochen worden wäre.
Verstehen Sie denn, warum er sich nicht impfen lässt?
Ich kann die Angst der Menschen vor Impfstoffen nachvollziehen, es geben Patienten ja auch ihre verschriebenen Medikamente ungeöffnet zurück oder werfen Sie in die Tonne, nachdem sie den Beipackzettel gelesen haben. Aber bei Djokovic war das ganze Verhalten nach meiner Meinung eine bewusste Provokation. Die Sorge bei einer Impfung geschädigt zu werden, war vielleicht in den ersten vier bis acht Wochen angemessen, aber mittlerweile haben wir Milliarden Menschen geimpft und die Nebenwirkungen sind nicht groß.
Corona ist einfach großer Mist, aber ohne die Impfstoffe, was hätten wir da gemacht?
Auch in Peking dürfen nur geimpfte Athleten starten, es sei denn, man begibt sich vorher in eine dreiwöchige Quarantäne. Die Corona-Zahlen steigen, der offizielle Kartenvorverkauf wurde gestoppt, dennoch sollen Fans gezielt eingeladen werden zu den Events.
Eine Gefahr für die Olympia-Blase?
Es muss gelingen, diese Blase von ein paar Tausend Teilnehmern, Funktionären und Medienleuten dicht zu halten. Wenn man weiß, dass China Millionen-Städte abriegelt und in kürzester Zeit durchtestet, dann mögen sie glauben, dass es funktioniert. Die „Fans“ sind mit Sicherheit handverlesene Kommunisten, die mit Stäbchen in der Nase zur Einlasskontrolle kommen (schmunzelt). Ich meine das nicht abwertend, aber ich bin gespannt, wie viele Zuschauer am Ende eingelassen werden, weil auch das einen Aufschluss darüber geben wird, wie sicher sich China ist. Auch die Bundesliga und Kulturschaffende werden gespannt nach Peking schauen, ob man Großveranstaltungen ohne Superspreading machen kann. Man darf nicht erwarten, dass die Chinesen uns Infektionszahlen geben. Wenn plötzlich während der Spiele weniger Zuschauer kommen dürfen, wissen wir dann schon bescheid.
Im Gegensatz zu den Sommer-Athleten, Mannschaftssport ausgeschlossen, haben viele Winterteilnehmer mehr Wettkämpfe. Ist die Quarantänezeit bei positiven Test von zehn Tagen angemessen?
Danach müssen die Personen an drei aufeinanderfolgenden Tagen keine Symptome und zwei negative Tests haben und der CT-Wert muss über 35 sein. Dann gilt er als sogenannte nahe Kontaktperson und wird weitere 7 Tage zweimal am Tag PCR-getestet, kann aber an Training und Wettkämpfen teilnehmen. Dazu vielleicht auch noch mal eine ganz generelle Bemerkung: Der CT-Wert hängt von vielen Faktoren ab, zum Beispiel auch von der Art und Weise, wie man einen Abstrich in der Nase oder Rachen durchführt. Und das zu standardisieren ist verdammt schwer, man kann ja nicht davon ausgehen, dass alle Mitarbeiter die Probe 100% gleich machen. Das sind ja bestimmt hundert oder mehr Mitarbeiter und die arbeiten auch in China – das ja für die Gleichschaltung von Menschen bekannt ist, trotzdem nicht alle gleich. Ein Milliliter Blut bei einer Blutprobe ist ein Milliliter Blut, aber in der Nase und dem Mund-Rachen-Raum, mit seinen speziellen anatomischen Gegebenheiten, das ist etwas anderes.
Der deutsche Alpinchef Wolfgang Maier hat neben den Problemen mit dem CT-Wert Angst vor manipulierten Tests. Ist das für Sie denkbar?
Der Testablauf ist von der Abnahme bis zur Übergabe im Labor hoffentlich ähnlich streng dokumentiert wie bei Dopingproben. Aber seit Sotschi wissen wir, dass Wände plötzlich Löcher haben können. Die Auswertung der Tests läuft dann voll automatisch, aber auch diese Maschinen sind natürlich nicht nur theoretisch von außen manipulierbar. Der Wille zum Betrug ist in unserer Gesellschaft, auch im Sport, immer da. Die Frage in Peking ist für mich, auf welcher Ebene könnte es sein. Und das wird spannend, auch lange nach den Spielen noch, wie wir von fast allen neueren Olympischen Spielen wissen.
Interview: Mathias Müller