München/Peking – Wie funktioniert eigentlich Berichterstattung aus China? Tamara Anthony (44), Leiterin des ARD-Studios in Peking, spricht mit unserer Zeitung über Bewacher bei Interviews und die Olympischen Spiele als Regierungsveranstaltung. Die Dokumentation „China inside – Winterspiele mit Hindernissen“ von Anthony und Daniel Satra läuft am heutigen Montag um 22:50 Uhr im Ersten und ist vorab in der Mediathek zu sehen.
Freie Berichterstattung in China – ist das überhaupt möglich?
Freie Presse gibt es in China nicht. China ist auf dem viertletzten Platz auf dem Pressefreiheits-Index. Chinesische Medien sind komplett zensiert. Nach offizieller Lesart hat Presse in China schlicht eine andere Aufgabe, und zwar das Sprachrohr der kommunistischen Partei zu sein. So wird es den künftigen Journalisten an den Universitäten beigebracht. Ausländische Medien werden an die immer kürzere Leine genommen.
Welche Restriktionen gibt es bei der Berichterstattung, wie werden Sie an der Recherche gehindert?
Bei vielen Drehreisen fährt mindestens ein Auto ständig hinter uns her. Wenn wir Interviews machen wollen, gehen diese „Aufpasser“ dazwischen und schicken die Interviewpartner einfach weg. Bei meiner letzten Drehreise waren vier Autos ständig hinter uns. Selbst in die Sackgassen sind sie uns hinterhergefahren. Wenn wir angehalten haben, haben sie angehalten, wenn wir Mittagessen gegangen sind, haben sie draußen vor dem Restaurant gewartet. Wir konnten kein einziges, richtiges Interview führen. Bei längeren Drehreisen übernachten diese Aufpasser oft im gleichen Hotel wie wir – oftmals im Zimmer nebenan oder gegenüber.
Welche Methoden zur Einschüchterung werden verwendet?
Sehr viele Menschen haben Angst, uns ein Interview zu geben. Zu Recht: sehr häufig bekommen sie nach einem Interview einen Anruf oder Besuch von der Polizei. Die Regierung will hier alle öffentlichen Äußerungen kontrollieren. Wenn sie etwas Kritisches gesagt haben, kann das zu großen Schwierigkeiten bis hin zu Gefängnis führen. „Streit suchen und Ärger provozieren“ ist ein Straftatbestand, mit dem gegen Andersdenkende vorgegangen wird. Ich muss mir also immer überlegen, wie groß die Gefahr für den Interviewpartner ist und ob die Person selbst einschätzen kann, welche Folgen ein Interview hat.
Macht man sich da nicht auch Gedanken um die eigene Sicherheit, wenn man ständig abgehört und bewacht wird?
Die meisten ausländischen Journalisten haben das Gefühl, ihre Sicherheit hängt davon ab, wie gut die Regierungsbeziehungen ihres Heimatlandes mit China sind. Als Kanada die Finanzchefin von Huawai festgesetzt hatte, nahm China zwei Kanadier mit fadenscheinigen Begründungen fest. Geiseldiplomatie ist hier kein Fremdwort. Am meisten Gedanken machen wir uns um die Sicherheit des chinesischen Personals. Unsere chinesischen Mitarbeiter dürfen wir nicht direkt anstellen. Wir können eine Anstellung beantragen, dann wird die Person vom chinesischen Außenministerium und der Staatssicherheit durchleuchtet. Falls die Person akzeptiert wird, wird sie beim chinesischen Außenministerium angestellt und zu uns entliehen. Ich bin auch schon zu einem Interview gegangen mit ausgedruckten Zetteln mit chinesischen Fragen. Die Übersetzungs-Apps auf dem Handy helfen in solchen Situationen nicht, denn zu sensiblen Interviews kann ich das Handy nicht mitnehmen, sonst werde ich geortet.
Kann der Fokus bei den Spielen in Peking auf dem Sport liegen – oder wird es mehr eine Propaganda-Veranstaltung für die chinesische Regierung?
In China selbst wird der Fokus auf Chinas Erfolgen liegen. Im Ausland aber sind die Spiele auch ein Anlass, um über China zu berichten. Und das ist gut so! Es gibt viele engagierte Menschen, spannende Ideen, eindrucksvolle Landschaften in China. Die Spiele bieten auch Anlass, um über die Menschenrechtsverletzungen von Chinas Regierung zu berichten, über die absolute Zensur, die bis in die private Kommunikation reicht und die Gängelung der Presse. Und die Spiele sind für viele Menschen Anlass, sich über China zu informieren, Dokumentationen anzuschauen, nicht nur die Sportberichterstattung, sondern auch die Nachrichten zu verfolgen.
Vorfreude bei der Bevölkerung wird da aktuell nicht zu spüren sein, oder?
Wintersport ist hier kein Massensport. Es gibt auch fast keine Wintersport-Stars. Außerdem werden die Spiele in abgesperrten Bereichen stattfinden und wegen Covid sind so gut wie keine Zuschauer zugelassen, auch Public-Viewing wird es wohl kaum geben. Was auch anders ist als bei uns: Es gibt keine Debattenkultur. Presse, Internet und sogar direkte Kommunikation über Chats sind komplett zensiert. Es gibt auch keine Zivilgesellschaft, also Privatinitiativen zu Olympia. Denn jede Organisation muss staatlich beaufsichtigt werden. Die Spiele haben in dem Sinne wenig mit der Bevölkerung zu tun. Sie sind eine Regierungsveranstaltung.
Wie wird mit der Corona-Situation in China umgegangen – sind die Zahlen der Regierung vertrauenswürdig?
Es wird weiterhin an einer Null-Covid-Politik festgehalten. Offiziell nennen sie es „dynamische“ Null-Covid-Politik. Tatsache ist aber, dass weiterhin das Ziel ist, keinen einzigen Covid-Fall zu haben. Jeder einzelne Fall löst Massentests und strikte Quarantäne aus – allerdings nicht mehr von ganzen Million-Städten, sondern von einzelnen Stadtteilen und Wohnanlagen. Das Virus hat sich in den letzten Monaten wieder in verschiedenen Städten verbreitet. Nach offiziellen Angaben sind es täglich einige Dutzend neue symptomatische Fälle pro Tag in ganz China. Die offiziellen Fallzahlen sollte man allerdings gerade mit viel Vorsicht betrachten. Es steht eines der wichtigsten Events für die Staatsführung an, da dürfen die Zahlen einfach nicht schlecht sein. Interessant ist eher, was gerade alles erschwert wird, wie Ein- und Ausreisen aus der Stadt Peking.
Interview: Nico-Marius Schmitz