„Bach hat sich China gebeugt“

von Redaktion

Felix Neureuther über den IOC-Präsidenten und sein Vorab-Resümee zu Olympia

München – Felix Neureuther hat drei Mal an Olympia (2006 Turin, 2010 Vancouver, 2014 Sotschi) teilgenommen. Die Winterspiele in Peking verfolgt der 37-Jährige als ARD-Experte. Unsere Zeitung hat ihn für ein Vorab-Resümee in seiner Hotel-Quarantäne erreicht.

Herr Neureuther, Sie sind „nur“ im Hotel eingesperrt. Aber können Sie sich vorstellen, wie sich Eric Frenzel gefühlt hat?

In so einem Moment bist du verzweifelt. Eric hatte ja keine Symptome, aber er musste alleine im Nirgendwo sitzen und zuschauen, wie andere die Medaillen gewinnen. Mental ist das heftig. Deswegen war es ein besonderer Augenblick von diesen Spielen, dass er noch eine Medaille gewonnen hat, er hat bis zum Umfallen gekämpft und alles toll weggesteckt.

Sein Teamkollege Terence Weber kam nicht rechtzeitig aus der Quarantäne. Sie waren 2014 einer der Medaillenfavoriten, hatten dann auf der Anreise einen Autounfall und waren in den Rennen verletzungsbedingt ein Schatten Ihrer selbst. Was macht das mit einem, wenn der Traum so brutal zerplatzt?

Man will die Zeit zurückdrehen und denkt: Das kann es nicht gewesen sein. Aber irgendwann musst du es akzeptieren und neue Ziele stecken. Dieser Prozess braucht Zeit, aber er kann dich stärker machen.

Lena Dürr, Linus Straßer und Kira Weidle schrammten an der Medaille vorbei. Auch sie hatten etwas zu verdauen, oder?

Lenas erster Durchgang war grandios. Aber ausgerechnet bei Olympia zu führen, das musst du im zweiten Lauf erst mal wegstecken. Meines Erachtens hat sie das, auch wenn es am Ende nicht ganz gereicht hat. Kira haben Kleinigkeiten gefehlt. Sehr schade! Linus ist ein gutes Rennen gefahren, aber für eine Medaille hätte es wie bei Kira im unteren Teil die letzte Frechheit gebraucht. Trotzdem war dieses Ergebnis für ihn ein wichtiger weiterer Schritt, ich glaube an ihn.

Haben Sie von den Ex-Kollegen Rückmeldung zur Situation vor Ort bekommen?

Ja, viele haben sich positiv geäußert. Dass du als Sportler versuchst, dich auf den Sport zu konzentrieren, ist auch legitim und richtig. Aber: Ich glaube schon, dass auch Sportler nach solchen Ereignissen bereit sein sollten, über den Tellerrand hinauszuschauen und zu realisieren, dass es in ihrem Umfeld um mehr geht als olympische Medaillen. Vielleicht habe ich dadurch in letzter Konsequenz einige Rennen nicht gewonnen, vielleicht hätte es mehr Egoismus gebraucht. Aber wenn man die Schicksale der Menschen in China sieht oder wahrnimmt, mit welchen Maßnahmen und Kosten einige Sportstätten gebaut worden sind, dann ist es mir wichtig, dies auch zu artikulieren und mich der Kritik zu stellen.

Die Athleten haben oft äußerst emotional reagiert…

Das ist ja klar, es sind immer noch Olympische Spiele. Wenn du die Ringe siehst, das macht was mit einem. Aber diese Magie soll in allen Bereichen strahlen können, auch außerhalb der reinen Wettkampfstrecken

Die Bronzemedaille von Skicrosserin Daniela Maier – war das einer dieser magischen Momente?

Ja, das ist es, was Olympia ausmacht. Wie fair sie mit der Situation umgegangen ist, war bewundernswert. Es gab viele emotionale Momente, natürlich auch unser Gold-Langlauf-Duo. Das macht Olympische Spiele so herausragend.

Eiskunstläuferin Kamila Walijewa hingegen erlebte einen olympischen Alptraum.

Ja, was für eine Tragödie. Das ist ein 15 Jahre altes Mädchen. Ein Kind. Was hat das Umfeld, was hat das russische Sportsystem mit ihr angestellt! Wenn ich daran zurückdenke, wie ich mit 15 war… und dann sehe ich, wie die Trainerin ohne jedes Gefühl mit ihr umgeht, da fällst du vom Glauben ab. Wie auch immer die positive Probe zustande kam, sie tut mir einfach nur leid.

Selbst IOC-Präsident Thomas Bach hat Trainerin Tutberidze kritisiert. Wie haben Sie ihn erlebt?

So, wie ich es leider erwartet habe. Thomas Bach hat sich dem chinesischen System gebeugt, er war ein Teil davon. Diese Spiele waren ein politischer Spielball. Und dann das Bild mit den Doppelsitzern. In dem Augenblick ging es nur um die mediale Aufmerksamkeit und nicht um die Athleten und Medaillengewinner. Für mich war die Aktion ein Sinnbild, wo sich das IOC hinbewegt hat. Es geht nicht um die Sportler, sondern um den Effekt.

In vier Jahren finden die Winterspiele in Cortina d’Ampezzo und Mailand statt. Wird dann alles besser?

Nicht alles, aber doch vieles. Diese Bewerbung war gerade auch aus der Sicht unserer abgelehnten Münchner Bewerbung ein Glücksfall. Viele Sportstätten existieren bereits. Italien ist eine Wintersportnation und die Begeisterung der Italiener ist ja sprichwörtlich. Ich hoffe, dass auch die Olympiaorte danach diese Kriterien erfüllen können.

Der Winterausrichter 2030 ist noch offen. Könnte man die deutsche Bevölkerung derzeit überhaupt für eine Bewerbung gewinnen?

In naher Zukunft kann ich mir das nicht vorstellen. Dazu müssten sich die Bewerbungskriterien gewaltig ändern. Deutschland wäre mit seiner Sportbegeisterung ein idealer Ausrichter, aber unsere Bevölkerung würde bei den derzeitigen Kostenvorgaben und den Nachhaltigkeitsproblemen schwer zustimmen. Ich würde mir mehr Mitspracherecht der Veranstalter wünschen. Ich würde mir ein stärkeres Mitspracherecht der Sportler wünschen. Ich würde mir wünschen, dass Olympische Spiele ein Erbe hinterlassen, das, wie es z. B. München gezeigt hat, noch Jahrzehnte nachwirkt und auf das die Menschen gerne zurückblicken. Meine Utopie: Jedes Land stellt eine Athletensprecherin oder einen Athletensprecher, die sich eigenständig organisieren und mitbestimmen können.

Interview: Mathias Müller

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