Peking – Die verstörenden Bilder ließen Thomas Bach auch am Morgen danach nicht los. Mit „Erschrecken“ habe er verfolgt, wie das russische Wunderkind Kamila Walijewa unter der Last der Dopingaffäre auf dem Eis zusammengebrochen war und wie „kalt“ sie danach von ihrem Team empfangen wurde. Bach zeigte bei seinem Auftritt Mitgefühl und griff Walijewas Umfeld an – eigene Verantwortung für den größten Skandal in Peking stritt der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees ab.
„Diejenigen, die ihr diese Droge verabreicht haben, sind die Schuldigen“, sagte Bach über den aufsehenerregenden Fall der 15-Jährigen, die trotz einer positiven Dopingprobe am olympischen Einzelwettbewerb teilnehmen durfte. Oder musste. Das IOC habe sich an den Rechtsweg gehalten und Einspruch beim CAS gegen die Aufhebung der Suspendierung eingelegt, sagte Bach und sprach von einem „Dilemma“. Das überschattete die ohnehin fragwürdigen Spiele in China.
Für die deutschen Athletenvertreter macht es sich Bach zu einfach. „Es hätte zumindest geprüft werden müssen“, ob Walijewa „überhaupt in der Verfassung für eine Teilnahme am Wettbewerb war“, sagte Maximilian Klein vom Verein Athleten Deutschland. Es sei „entlarvend, dass dem IOC-Präsidenten die immense Belastung der Athletin wohl erst beim Zuschauen aufgefallen ist, gerade weil ihr Umfeld für seinen verstörenden Umgang mit Athletinnen bekannt ist“.
Am TV hatte Bach Waljiewas Kür verfolgt – wie Millionen andere auf der Welt, der Eiskunstlauf der Frauen ist stets ein Publikumsrenner bei Winterspielen, diesmal aufgeführt mit einem Drama um ein Jahrhunderttalent und Bösewichtern an der Bande. Trainerin Eteri Tutberidse hatte Walijewa nach den Stürzen auf dem Eis nicht in den Arm genommen, sie hatte ihr Vorwürfe gemacht. „Warum hast du alles aus den Händen gegeben?“, fragte Tutberidse. „Sag es mir!“
Walijewa ist kein Einzelfall, auch ihre Teamkollegin Alexandra Trussowa (17) war trotz Silber dem Nervenzusammenbruch nahe. Sie empörte sich, dass fünf Vierfachsprünge für sie nicht zu Gold gereicht hatten. „Ich hasse diesen Sport. Ich hasse diesen Sport. Ich hasse alles daran“, hatte sie gesagt und einen Start bei der Weltmeisterschaft nächsten Monat offengelassen.
„All das“, sagte Bach, gebe ihm „nicht viel Zuversicht in Kamilas engstes Umfeld“. Eine Aussage, die auf russischer Seite nicht gut ankam. „Wir respektieren die Meinung von Thomas Bach, aber wir müssen sie nicht zwingend teilen“, sagte Regierungssprecher Dimitri Peskow. Russlands Sportminister Oleg Matytsin erklärte: „Er ist zumindest diskutabel, vom Fernseher aus das Verhalten einer Trainerin und ihre Beziehung zu ihrer Athletin zu beurteilen.“
Gegen Walijewas Umfeld läuft eine Untersuchung der der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA. Die hatte Russland für den massiven Betrug bei und nach den Winterspielen 2014 in Sotschi aus dem Weltsport ausgeschlossen, allerdings sind die Sanktionen bis zur Unkenntlichkeit aufgeweicht worden. In Peking starten Hunderte Russen ohne Fahne und Hymne unter dem Namen des Nationalen Olympischen Komitees. Und sammeln weiter Medaillen.
Die WADA kritisiert die CAS-Entscheidung für einen Start Walijewas als „gefährlichen Präzedenzfall“. Die CAS-Richter seien „von den klaren Bestimmungen des Codes abgewichen“, die man erst im November 2019 einstimmig angenommen habe. „Unmissverständliche Bestimmungen“ seien ignoriert worden.
sid, dpa