Das Lexikon der neuen Formel 1

von Redaktion

Der GP-Zirkus startet nach einer radikalen Reform in die Saison 2022 – was man wissen muss

München – Im Laufe ihrer über 70-jährigen Geschichte hat die Formel 1 immer wieder ihre Technik verändert. Meist ging es bei neuen Regeln darum, dass die Autos zu schnell geworden waren, zu teuer – oder beides. Bereits 1958 wurde ein geheimnisumwitterter Mix aus Benzol, Alkohol und Flugbenzin verboten. Er war so aggressiv, dass er über Nacht den Motor zerstört hätte, wenn ihn die Mechaniker nicht nach jedem Einsatz abgepumpt hätten. 1983 stutzte das Reglement den ultraschnellen Ground-Effect-Autos die Flügel, 1989 wurden die Turbo-Monster verboten.

2009 hatte Brawn GP nach einschneidenden Änderungen an der Aerodynamik die goldene Idee mit dem doppelten Unterboden. Bis die Konkurrenz nachziehen konnte, war das Mercedes-Vorgänger-Team, das nur eine Saison fuhr, mit Jenson Button bereits Weltmeister. Aber so grundlegend neu wie 2022 hat sich die Formel 1 wohl noch nie erfunden. Autos, Aerodynamik, Reifen, Sprit, Kostenstruktur – diese Saison ist alles anders, mit einem Jahr Verspätung wegen Corona. Mercedes hat beim neuen W13 E Performance beispielsweise ganze zwei Prozent der Teile des alten Autos übernommen. Nur das Lenkrad blieb unangetastet. Wir präsentieren das Lexikon der neuen Formel 1.

Alain Prost: Der „Professor“ aus Frankreich war 1993 der letzte Weltmeister in einem Auto mit aktiver Radaufhängung. Danach wurde die Computertechnik verboten. Aber was hat er mit 2022 zu tun? Ganz einfach: Schon bei den ersten Tests in Barcelona ist aufgefallen, dass der einst so wilde Max Verstappen plötzlich sanft und weich fährt wie früher Alain Prost – vor Kurven früh auf der Bremse, behutsam Einlenken, früh wieder am Gas. Denn die Aerodynamik der neuen Ground-Effect-Autos funktioniert am besten, wenn der Bodenabstand und damit der Anpressdruck möglichst konstant bleibt. Wildes Räubern über Randsteine ist deshalb out – dafür ist der Prost-Style gefragt.

Budget: 2019 soll Mercedes noch 425 Millionen Dollar für sein Formel-1-Team verjubelt haben. 2021 durften es mit dem Budgetdeckel („Cost Cap“) nur noch 145 Millionen Dollar sein. Dieses Jahr sind 140 Millionen Dollar die Grenze – und ein Ausgleich für die aktuell hohe Inflation ist nicht geplant. Fahrer, die teuersten drei Angestellten und einige Ausgaben wie fürs Marketing sind dabei ausgenommen. Damit können Formel-1-Teams mit dem Rennsport sogar Geld verdienen, und die Chancengleichheit steigt. „Früher hatten die Top-teams im Jahr 200 bis 300 Millionen Dollar mehr zur Verfügung als die kleinen Rennställe“, erklärt Haas-Teamchef Günther Steiner. „Jetzt sind es vielleicht noch 10 bis 20 Millionen“. Weil die Topteams aber immer noch die clevers-ten Köpfe beschäftigen und die besten Hard- und Software-Werkzeuge nutzen, wird es von Mercedes bis Haas in Sachen Rundenzeiten aber auch weiterhin eine „Formel 1“ und eine „Formel 2“ geben.

Colin Chapman: Der legendäre Lotus-Gründer war einer der Erfinder der „Wing Cars“, deren Ground Effect 2022 nach 39 Jahren Pause zurückkehrt. Er und Aerodynamiker Peter Wright verfeinerten 1977 mit dem revolutionären Lotus 78 das Prinzip mit den umgedrehten Flügelprofilen an den Seiten des Autos, die den Rennwagen am Boden festsaugen. March hatte die Idee bereits 1970 beim Modell 701 gehabt, konnte sie aber nicht erfolgreich in die Praxis umsetzen. 1978 gewann Mario Andretti im Lotus 78 und im nochmals verfeinerten Nachfolger Lotus 79 den WM-Titel. Bis 1982 sorgten die Flügelautos, die wie auf Schienen durch die Kurven fuhren, dafür, dass die Rundenzeiten binnen weniger Jahre um 10 bis 13 Sekunden sanken. Die „Wing Cars“ klebten dermaßen am Boden, dass sie oft keine Frontspoiler mehr brauchten. 1983 war der Spuk vorbei. 2022 funktionieren die Autos erstmals wieder nach diesem Prinzip – wenn auch ohne die beweglichen Plastikschürzen, die den Unterboden früher noch zusätzlich abdichteten. Die FIA-Techniker haben ausgerechnet: Wenn die neuen Formel-1-Autos auch noch Schürzen hätten, wären sie auf einen Schlag drei Sekunden schneller.

Dämpfung: Die Fahrer brauchen 2022 gute Bandscheiben. Denn die Autos sind so bretthart gefedert wie seit vielen Jahren nicht mehr. Grund: Zu viel Federweg würde dafür sorgen, dass sich der Bodenabstand ständig verändert – was schlecht für den Ground Effect wäre. „Die harte Federung wird die Fahrer an ihre Zeit im Kart erinnern“, vermutet Aston-Martin-Cheftechniker Andrew Green. Das Phänomen ist nicht neu: Schon in den „Wing Cars“ von einst wurden die Fahrer so durchgeprügelt, dass Alan Jones, Williams-Weltmeister von 1980, auch deswegen ein Jahr später in den (zwischenzeitlichen) Ruhestand ging.

Einheitsbrei: Nachdem sich die FIA ein 169 Seiten (!) starkes neues Reglement mit vielen Restriktionen ausgedacht hatte, war zu befürchten, dass die Formel-1-Autos 2022 alle fast gleich aussehen. Aber von wegen! Nach dem Einheitsbrei der letzten Jahre sind die Lösungen bei Spoilern, Seitenkästen oder Unterboden so unterschiedlich, dass man die Rennwagen auch ohne Lackierung sofort erkennen würde. Die spitze Bleistiftnase des Ferrari F1-75, die eigenwillig eingezogenen Seitenkästen des Red Bull RB18 oder die Kühlluft-Kiemen des Aston Martin AMR22 – alles völlig unterschiedliche Ideen. Das könnte sich aber schon 2023 wieder ändern, wenn dieses Jahr klar wird, welche Lösungen am besten funktionieren. Einen Geniestreich wie den Doppeldiffusor des Brawn BGP 001 hat aber wohl kein Team ausgeheckt. Der damalige Besitzer und heutige Formel-1-Sportdirektor Ross Brawn zeigt sich zufrieden: „Bisher hat niemand so ein Schlupfloch gefunden.“

Ground Effect: Die Formel 1 hat das seit über einem halben Jahrhundert bekannte Prinzip vor allem dafür zurückgebracht, um das Überholen wieder zu erleichtern. Denn die bisherigen Autos waren mit ihrer Armada an Flügelchen und Bargeboards aerodynamisch so hochsensibel, dass knappes Hinterherfahren oder gar Überholen extrem schwer war. Bei den neuen „Wing Cars“ wird der Anpressdruck vor allem über den Unterboden erzeugt, in dem die Luft durch sogenannte Venturi-Tunnel fließt und für Bodenhaftung sorgt. Der italienische Physiker Giovanni Battista Venturi hat dieses Prinzip schon Ende des 18. Jahrhunderts entdeckt. Die neuen Autos sind also aerodynamisch unempfindlicher. Zu Saisonbeginn dürften sie noch rund eine Sekunde langsamer sein als ihre Vorgänger. Aber schon Ende 2022 könnte zumindest Gleichstand herrschen – wenn die Teams die neue Technik immer besser verstehen. Bereits jetzt schaffen es die Ingenieure beispielsweise, durch gezielte kleine Luftwirbel am Unterboden den Vakuum-Effekt der Schürzen von früher nachzuahmen.

Hoppeln: Für das völlig neue Phänomen, das die Teams trotz aller Simulationen erst beim Test in Barcelona entdeckt haben, gibt es bereits zahlreiche Bezeichnungen. „Porpoising“, also Hüpfen wie ein Delfin – oder auch Bouncing, Pumpen, Flattern und Schaukeln. Dabei geht es darum, dass die Autos bei hohen Geschwindigkeiten beginnen, zu hoppeln und zu hüpfen wie ein Känguru. Auch das liegt am Ground Effect. Er saugt das Auto an die Straße. Bei Bodenkontakt reißt die Strömung ab, das Auto steigt nach oben, und alles fängt wieder von vorne an. „Man kann das mit mehr Bodenfreiheit einfach abstellen“, denkt Red Bulls Design-Genie Adrian Newey laut nach – aber dann wird das Auto langsamer. McLaren und Ferrari haben in Barcelona mit Schlitzen im Unterboden experimentiert, die bei hoher Geschwindigkeit Luft nach außen lassen. Sie könnten das Hoppel-Problem lösen.

Ingenieure: Sie dürfen sich durch den Budgetdeckel weitaus weniger austoben als in den letzten Jahren. Die Zeiten, in denen gerade die großen Teams permanent neue Teile im Windkanal getestet haben, sind vorbei. Das wäre mittlerweile viel zu teuer. Nur die besten Ideen werden weiterentwickelt, verrät McLaren-Technikchef James Key: „Wenn du zu früh dein Pulver verschießt, hast du vielleicht später kein Budget mehr, um nachzulegen.“ Dazu kommt, dass die erfolgreichsten Teams der letzten Saison die wenigste Zeit im Windkanal und mit Computer-Simulationen verbringen dürfen – und die Hinterbänkler die meiste. Auch dadurch soll das Feld zusammenrücken. Wenn beispielsweise 400 Windkanalstunden in einer Entwicklungsphase die Normzahl sind – dann darf Mercedes nur 70 Prozent davon nutzen, Haas aber 115 Prozent.

Motor: Die Power Unit bleibt 2022 trotz aller Umwälzungen praktisch unverändert. Ein neues und „grünes“ Reglement soll erst 2026 kommen. Eine entscheidende Neuerung gibt es aber bereits dieses Jahr: Statt wie bisher 5,75 Prozent Biosprit im Benzin müssen es jetzt zehn Prozent sein. Und die Art des Biokraftstoffs ist den Herstellern nicht mehr freigestellt, Bioethanol ist Pflicht. „Man darf die Auswirkungen nicht unterschätzen“, warnt Mercedes-Motorenchef Hywel Thomas. Die Prozesse bei der Verbrennung im Motor ändern sich dadurch deutlich. Von den ursprünglich rund 20 PS Leistungsverlust durch E10 wollen die Teams bis zum Saisonstart so viel wie möglich wieder gutmachen. Seit 1. März darf in diesem Bereich aber nicht mehr entwickelt werden.

Reifen: Hier ist die Formel 1 im 21. Jahrhundert angekommen. Statt den altertümlichen Ballonreifen mit 13 Zoll gibt es neue 18-Zöller von Pirelli. Das freut die Italiener, die endlich mit Formel-1-Reifen werben können, die dem Serienprodukt ähnlicher sind. Und es freut hoffentlich Fahrer und Fans. Denn die neuen Pirellis sollen sich weniger stark erhitzen, wenn die Autos rutschen. Auch das dürfte Zweikämpfe und Überholen erleichtern. Nachteil: Vier Reifen wiegen zusammen elf Kilo mehr als 2021. Das trägt dazu bei, dass das Mindestgewicht der ohnehin schon massigen Autos erneut steigt, von 752 Kilo auf 795 Kilo. Weil es vor Saisonstart nur sechs Testtage für die Kombination aus Ground-Effect-Autos und 18-Zoll-Reifen gibt, freut sich Ex-Jordan-Konstrukteur Gary Anderson „auf einige Überraschungen, die die Fahrer erwarten dürften“.

Simulation: Um die Regeln für die neue Formel 1 festzulegen, hat das Technikteam der FIA unter dem griechischen Chef Nikolas Tombazis rund 7500 Simulationen am Computer durchgeführt und war 100 Stunden im Windkanal. Dabei ist ein halbes Petabyte an Datenmenge entstanden, was über drei Milliarden Facebook-Fotos entspricht. 16,5 Millionen Rechenstunden mit extrem schnellen Computern waren dafür nötig. Ein herkömmlicher Intel-i9-Laptop hätte für die Berechnungen laut Formel-1-Website 471 Jahre gebraucht.

Überholen: Ein F1-Auto von 2021 hat beim Fahren hinter einem Konkurrenten je nach Abstand zwischen 35 und 47 Prozent an Abtrieb verloren. 2022 sollen es nur noch 4 bis 18 Prozent sein. Ob das Überholen damit wirklich einfacher wird, müssen die ersten Rennen zeigen. Wenn alles wie geplant funktioniert, könnte die Formel 1 vielleicht schon 2023 die Überhol-Krücke DRS mit ihren Klapp-Heckflügeln abschaffen. Aston-Martin-Cheftechniker Andrew Green: „Wenn die Autos enger miteinander kämpfen können, brauchen wir vielleicht kein DRS mehr.“

Zukunft: 2022 stochern die Teams noch weitgehend im Nebel. Niemand weiß, welche Lösungen sich mit den neuen Regeln schlussendlich durchsetzen. Falls ein Team mit einer brillanten Idee deutlich vorausfährt, kann die FIA reagieren: „Wenn wir für 2023 etwas ändern müssten, könnten wir das vor dem 30. April mit einem Mehrheitsbeschluss durchsetzen, und danach mit acht von zehn Stimmen“, so Technikchef Tombazis. Weil die Aerodynamik viel simpler ist als bisher, lassen sich besonders schlaue Ideen der Konkurrenz aber deutlich leichter kopieren. Dass ein, zwei Teams drückend überlegen sind, sollte in den nächsten Jahren deshalb nicht mehr passieren. JÖRG HEINRICH

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