München/Nepal – Als David Göttler am 21. Mai endlich den höchsten Punkt der Welt erreicht, spürt er Erleichterung und Anspannung zugleich. Schließlich muss der Münchner im Anschluss unversehrt auch wieder vom Hauptgipfel zum Südsattel herunterkommen.
Aber, so viel sei vorweggenommen: Es sollte alles gut gehen. Nach Makalu (8 485 Meter), Lhotse (8 516 Meter), Dhaulagiri (8 167 Meter), Gasherbrum II (8 034 Meter) und Broad Peak (8 051 Meter) ist der 8 848 Meter hohe Mount Everest der sechste Achttausender, den der 43-Jährige ohne Zuhilfenahme von Flaschensauerstoff und ohne Hilfe von Hochträgern bezwingen konnte. „Alle Sterne waren an diesem einen Tag wohl in der richtigen Position“, erzählte Göttler, als ihn unsere Zeitung, bereits wieder auf dem Rückweg nach Kathmandu, am Telefon erreichte.
Begonnen hat sein Everest-Abenteuer am 12. April, es war sein dritter Versuch am höchsten Berg der Welt. Nach ausgiebigen Akklimatisationstouren fühlte sich der gebürtige Pasinger nach einer mehrtägigen Regenerationsphase endgültig bereit für den finalen Aufstieg.
Dann hieß es allerdings erst einmal warten: Auf perfektes Wetter, auf gute Bedingungen. Denn, das weiß Göttler aus vergangenen Versuchen am Dach der Welt: „Zeigt sich ein brauchbares Schönwetter-Fenster, bricht am Everest eine Menschen-Karawane aus dem Basislager auf.“ Der Großteil der Gipfel-aspiranten hat sich kommerziellen Expeditionen angeschlossen. Als Teilnehmer profitieren sie von der Logistik der Unternehmen, zahlen viel, kümmern sich selbst um wenig. Hochträger nehmen ihnen schweres Gepäck ab, versorgen sie mit Essen und Tee in den unterschiedlichen Lagern. Die Zelte sind in unterschiedlichen Höhen längst aufgebaut, bevor der zahlende Kunde dort übernachtet. Flaschensauerstoff ist in der Höhe deponiert.
David Göttler aber ist autark unterwegs. Keine Sherpahilfe, kein Flaschensauerstoff. Es gibt niemanden, der ihn im Aufstieg begleitet. Sein Zelt schleppt er selbst hoch, Kocher und Essen natürlich auch. Und doch gab es Unterstützung. Präzise erklärt er im Anschluss an seinen Erfolg: Er habe die bereits verlegten Fixseile benutzt, sei über Leitern durch den gefürchteten Khumbu-Eisfall auf- und abgestiegen und bedankt sich bei den Personen, die jene überlebenswichtige Infrastruktur vorab installiert hatten. „Bereits am 7. Mai waren diese Arbeiten abgeschlossen, war der Everest versichert“, sagt er am Telefon. Danach war Geduld gefragt.
2019 stand Göttler etwa 100 Meter unterhalb des Gipfels am Südsattel regelrecht im Stau, was ihn zur Umkehr zwang. Ist man ohne Zusatz-Sauerstoff unterwegs, sollte man sich nicht allzu lange in der so genannten Todeszone aufhalten. Ein stundenlanges Warten ist da nicht drin. Seine Taktik für dieses Mal: „Erst nach dem großen Ansturm aufsteigen.“ Eine echte Geduldsprobe war das. „Du sitzt bei bestem Wetter im Basislager, die ersten Everest-Besteiger kehren erfolgreich zurück und du hockst untätig rum. Das ist eine mentale Herausforderung.“
Ein vergleichsweise langes Schönwetter-Fenster hat die Lage am Everest Mitte Mai allerdings entzerrt und Göttler eine weitere Möglichkeit geboten. Nach einer Nacht im Lager 3 sahen die Wettermodelle am 21. Mai für immerhin 14 Stunden stabil aus. Einem Gipfelversuch stand nichts im Weg. 12 Stunden und 20 Minuten hat Göttler final ab Lager 4 in 7 900 Metern Höhe auf den Gipfel benötigt, welchen er am 21. Mai um 9.45 Uhr alleine erreichte.
Vergleichsweise warm war es, wobei: „Gefühlte minus 30 Grad im Windchill, aber im dicken Daunenanzug ist das ganz gut auszuhalten“, sagt Göttler, der während des Telefonats immer wieder hustet. Seine knallgelbe, zweiteilige Daunenmontur – eine Spezialanfertigung seines Sponsors The North Face – hat ihm im Basecamp den Spitznamen „Banana Man“ eingebracht. Was es damit auf sich hat? „Dabei handelt es sich wohl um einen Comic-Helden aus Großbritannien, der über Superkräfte verfügt.“
Göttler mag körperlich unglaublich fit sein, Superkräfte allerdings sind ihm nicht angeboren. Seit gut fünf Jahren ist ein Trainer an seiner Seite. Jahr ein, Jahr aus trainiert der Bergathlet wie verrückt: Laufen, Trailrunning, Klettern, Skitouren … Vor einer anstehenden Expedition steigert der 43-jährige Multisportler freilich das Pensum noch einmal gewaltig. Um sich optimal vorzubereiten steigt er dann schon mal mit schweren Steinen im Rucksack und Steigeisen an den Schuhen schnell auf einen Gipfel. „Jenseits der 7000-Meter-Grenze kostet jeder Schritt, jeder Handgriff extrem viel Kraft und Überwindung.“
Eigentlich wolle man in dieser Höhe permanent aufgeben, sich hinsetzen oder umdrehen. Einfach nur absteigen in tiefere Regionen, wo die Luft wieder dicker ist und einem viel Sauerstoff zum Atmen liefert. Es sei ein großer Kraft-, aber auch Willensakt weiterzugehen, in Pausen sein Zelt aufzubauen, auch zu essen und ausreichend zu trinken. „Dann rede ich mir selbst gut zu. Komm’ David, jetzt bau das scheiß Zelt auf, danach Schnee schmelzen, Essen kochen, nimm einen Bissen, David! Noch einen Schluck, weiter so und noch einmal!“ Sich durch derartige Selbstgespräche immer wieder neu zu motivieren, sich selbst zu puschen hat ihm seine Mentaltrainerin beigebracht.
Weil er nach vergangenen Expeditionen in großer Höhe oft monatelang unter starkem Husten litt, die eiskalte, sehr trockene Luft seinen Atemwegen bei großer Anstrengung stark zu schaffen macht, trug Göttler dieses Mal eine Art Atemschutz. „Es handelt sich dabei um eine so genannte Airtrim-Sportmaske. Sie wärmt und befeuchtet die Atemluft, wird bei Ausdauersport in extremer Kälte oft verwendet.“
Sechs Achttausender hat David Göttler nun ohne Flaschensauerstoff bestiegen. Ob er alle 14 packen möchte? „Ich werde weiterhin hohe Berge besteigen, das schon. Drei, vier Achttausender reizen mich noch, vielleicht über eine neue Route, zu einer anderen Jahreszeit oder in einem interessanten Stil. Aber die komplette Sammlung ist nicht mein Ziel.“