Aying – „Jetzt geht’s aber los“, ruft ein Mitglied des Veteranenvereins, als er nach der Kranzniederlegung den Wirt im Bayern-Trikot erblickt – und auch der Brauereidirektor erregt Aufsehen, als er am Pfingstmontag im Löwen-Nostalgietrikot durch die Reihen des Ayinger Bräustüberl-Biergartens schreitet. Schon vor dem von unserer Zeitung arrangierten Frühschoppen-„Derby“ zeigt sich: Blau oder Rot ist eine Lebensentscheidung, nicht nur für Helmut Erdmann, 53, und Alexander Moosbauer, 41 – und auch wenn sich die jeweiligen Vereine seit vielen Jahren nicht mehr in Pflichtspielen gegenüberstehen. Über die Sehnsucht nach Derbys, die Emotionen in zwei sich in Lichtgeschwindigkeit voneinander entfernenden Vereinen geht es bei unserer Debatte – und noch um vieles mehr.
Philosophische Einstiegsfrage: Wer ist der zufriedenere Mensch: der Bayern-Fan nach der zehnten Meisterschaft in Folge – oder der Löwen-Fan nach sieben Sommer-Neuzugängen für die geplante Aufstiegssaison?
Moosbauer: Lassen wir die Meisterschaften weg. Darüber kann man sich wirklich nicht mehr freuen . . . Bös gesagt: Wir können noch so schlecht spielen – und werden trotzdem Meister, das ist ja eines der Probleme, das wir haben.
Und wie zufrieden ist aktuell der Löwen-Fan, Herr Erdmann?
Erdmann: Es ist interessant zu sehen, wie der Verein es immer wieder schafft, seine Anhängerschaft neu zu motivieren. Eigentlich war man schon vor zwei Jahren enttäuscht, dass man nicht aufgestiegen ist, letztes Jahr wahnsinnig enttäuscht – und jetzt feiert man einen vierten Platz wie die Meisterschaft, nur weil man dadurch die Qualifikation für den DFB-Pokal geschafft hat. Eines muss ich trotzdem sagen: Was der Herr Gorenzel da mit seiner Transferpolitik geleistet hat, weitgehend geräuschlos, das ist schon aller Ehren wert – und ein Grund dafür, dass man seit langer Zeit mal wieder noch zuversichtlicher in die Saison geht.
Provokant gefragt: Ist Gorenzel der bessere Brazzo?
Erdmann: Wer ist der Brazzo? (Gelächter in der Runde). Moosbauer: In der Hinsicht, dass er ruhiger ist, ja. Was mich nämlich gerade mit am meisten stört: Alles wird medial brutal aufgeblasen – und dann kann’s eigentlich nur schiefgehen, das Ganze.
Erdmann: Das Angebot der Bayern an Gorenzel dürfte eine Frage der Zeit sein . . . Aber mal im Ernst: Wir spielen in einer ganz anderen Liga – das ist einfach so. Auch wenn alle Neuzugänge ablösefrei zu bekommen waren, war die Herausforderung, diese nicht nur von Sechzig zu überzeugen, sondern vor allem in das Gehaltsgefüge der Mannschaft einzupassen. Mit unserem Budget von sechs Millionen Euro im Jahr muss man das auch erst mal hinkriegen. Diese Summe bekommt meines Wissens der Ersatztorhüter der Bayern allein pro Jahr. Womit wir beim Thema Lewandowski wären . . .
Gutes Stichwort. Wie nimmt der Löwen-Fan so ein Wechseltheater wie das um Lewandowski wahr? Freut er sich über die Unruhe beim Rivalen?
Erdmann: Generell finde ich es tragisch – und heftig: Wie ein einziger Spieler einen ganzen Verein so unter Druck setzen kann . . . Wie soll der denn danach noch für Bayern spielen? Ähnliches haben wir ja im Kleinen bei Dressel erlebt (der im Sommer 2021 zu Darmstadt 98 wechseln wollte, aber nicht durfte/d. Red.). Der hat danach eine sehr unauffällige Saison gespielt.
Um nun ablösefrei nach Rostock zu wechseln.
Apropos Transfers. Im Postillon gab’s eine nette Fotomontage: Lewandowski im Löwen-Trikot neben dem Gorenzel. Als Kommentar hab ich drunter geschrieben: Wir haben doch mit dem Stegmann einen super Zeugwart. Wo sollte denn der Lewandowski bei uns spielen?
Moosbauer: (lacht) Die Frage ist: Was macht man mit ihm? Nachdem er öffentlich geäußert hat, dass er weg will, ist das für mich ein Zeichen, dass er ganz klar weg gehört. Hainer hat ja gesagt: Wertschätzung ist keine Einbahnstraße. Ich befürchte, die Diskussion nimmt jetzt erst so richtig Fahrt auf. Ich sage: Bei Hoeneß und Rummenigge hätte es so ein Theater nicht gegeben. Dafür eine Ansage – und dann hätten alle pariert. Hoeneß hat den Brazzo als seinen Nachfolger sicher bewusst ausgewählt, aber aktuell bin ich nicht ganz zufrieden mit seiner Personalpolitik. Von Kahn halte ich wahnsinnig viel – weil der schon immer ein Geschäftsmann war. Aber jetzt hakt’s irgendwie gerade.
Bei 1860 dagegen dürfte man seit langer Zeit mal wieder zufrieden sein mit der Chefetage.
Erdmann: Wie gesagt: Aktuell ist man noch zuversichtlicher als sonst – wobei wir ja vor jeder Saison als Aufsteiger feststehen. Das ist die typische Mentalität des Löwen-Fans.
Den Sportchef Gorenzel haben Sie schon gelobt. Wie schaut es mit Trainer Michael Köllner aus?
Eigentlich hat er sein Ziel verfehlt, besser als Platz vier abzuschneiden. Eine weitere Chance gebe ich ihm aber gerne. Die Voraussetzungen sind geschaffen: Alle Weggänge wurden nicht nur ersetzt, man hat sich da sogar auf den einzelnen Positionen verbessert – daran wird der Trainer jetzt auch gemessen.
Wie schaut denn ein Bayern-Fan auf die Löwen, Herr Moosbauer: Nimmt man sie überhaupt wahr in ihrem Giesinger Kosmos?
Moosbauer: Natürlich interessiert einen, was in der Stadt los ist, was der Konkurrenzverein macht. Ich krieg’ das meiste mit, dafür sorgt schon unser sehr ausgewogen besetzter Stammtisch. Fußball ist ja irgendwo auch ein Drumherumgeschäft, wo es um die Stimmung geht – und da schaut man als Bayern-Fan schon ein bisschen neidisch zu den Löwen. Wenn 1860 spielt, bebt ganz Giesing – das haben wir nicht da draußen in der Arena.
Man schaut also nicht mitleidig von oben herab auf die kleinen Löwen?
Moosbauer: Mitleidig nicht. Dieses Scharmützeln gehört irgendwo dazu – und ganz neutral muss man feststellen: Die Löwen haben eine tolle Saison gespielt, da gibt’s nichts. Ich hätte ihnen den Aufstieg auch vergönnt. Vielleicht müssen sie jetzt noch ein Jahr warten. Sie haben auf alle Fälle gut eingekauft. Wobei: Eingekauft ist übertrieben – die sind ja alle umsonst gekommen . . .
Erdmann: Da siehst du mal, wie gut wir im Verein mit Geld umgehen können (lacht).
Moosbauer: Was macht eigentlich Euer Investor? Von dem hat man länger nichts mehr gehört . . . Nein, aber wenn ich mir aus der Ferne ein Urteil erlauben darf: Ich glaube, dass die Löwen aktuell auf einem guten Weg sind.
Wie nimmt man als Löwe die Bayern wahr – außer wenn sie verlieren?
Erdmann: . . . und das machen sie sehr selten. Aber mein Mitleid hält sich hier meistens in Grenzen.
Sie halten es also mit Otti Fischer, der sagte: Als Löwen-Fan geht es nicht darum, dass du für 1860, sondern gegen Bayern bist?
Soweit will ich nicht gehen, obwohl ich es ja nicht leicht hatte als Jugendlicher. Erst vom roten Vater geprägt, ab Bielefeld (Relegations-Duelle 1977 mit 0:4, 4:0 und Löwen- Sieg im Entscheidungsspiel/Red.) dann nur noch 1860 – plötzlich Lizenzentzug und zehn Jahre Bayernliga. Wenn die Sportschau lief, hab ich gefragt: Wann kommt denn 1860? Ansonsten halte ich mich mit Aussagen über den FC Bayern weitestgehend zurück, da ich mich hier meistens zusammenreißen muss. So wie vor zwei Wochen, als wir als Brauerei einen neuen Kunden gewinnen wollten: eine tolle Wirtschaft, wo der Wirt ein Tiefroter ist und auch Spieler von Bayern verkehren. Sagt mein Außendienst vor dem Treffen: „Herr Erdmann, wir reden über alles – nur nicht über Fußball. Seien Sie bitte ein bisschen diplomatisch. Und lassen Sie vor allem Ihren Standardspruch weg . . .“
Moosbauer: Wie geht der?
Erdmann: Es gibt zwei Arten von Fans: die, die sich mit Fußball auskennen – und Bayern-Anhänger.
Und Ihr Sohn? Geht’s dem wie Ihnen damals bei einem roten Papa?
Erdmann: Nein, der ist standhaft – und läuft in seinem Fußballverein am Tegernsee mehr oder weniger einsam mit seinem Löwen-Trikot rum. Wobei: Mein Gefühl ist, dass viele Kinder heute eher europäisch denken, den Trikots nach: Real Madrid, Barcelona, Hajduk Split . . . Diese Rivalität Bayern-Sechzig, die ist vielleicht gar nicht mehr so vorhanden. Moosbauer: Kommt schon wieder – aber dazu müssten wir mal wieder gegeneinander spielen.
» Den zweiten Teil unseres Doppel-Interviews lesen Sie auf Seite 29.