Mönchengladbach – Nationalspieler ist man immer. Jeden Tag, auch an solchen, an denen einen der Verein komplett in Beschlag nimmt. So hat Hansi Flick das festgelegt, als er am 1. August 2021 offiziell als Bundestrainer anfing und im September erstmals einen Kader um sich sammelte. Doch als er seine Leute am Dienstagabend in Mönchengladbach ziehen ließ, versprach er, sie in nächster Zeit nicht anzutexten, nicht anzurufen, keine Videoschulungen einzuberufen. „Jetzt sollen die Spieler erst einmal abschalten, manche haben weniger als drei Wochen Urlaub“, sagte Flick. Er habe zu danken für die Investition an Zeit, die geleistet wurde im Anschluss an die Saison.
Eine Woche Training in Marbella, zwei Wochen in Herzogenaurach, das Programm durchsetzt mit vier anspruchsvollen Spielen in der Nations League. Die zwei Ersatztorhüter Kevin Trapp und Oliver Baumann konnte er nicht einmal mit Einsätzen belohnen, wenigstens alle Feldspieler durften aber mal auflaufen, und vor allem war der Bundestrainer froh: „Bis auf Marco Reus mit einer kleinen Muskelverletzung können alle gesund nach Hause und in Urlaub fahren.“
Flick beschloss seine erste Saison als Chef der Nationalmannschaft in relativer Zufriedenheit. 13 Spiele waren zu bestreiten, keines ging verloren. „Gefreut hat mich“, bilanzierte er, „dass wir noch ungeschlagen sind. Nicht besonders gefreut haben mich die vier 1:1.“
Das zeigt, wohin der Anspruch geht – und wie Flick gestrickt ist. Bei all seiner menschlichen Korrektheit und steten Fairness ist er berüchtigt für seinen Ehrgeiz, der sich sogar zeigt, wenn er in der Freizeit selbst kickt, der dieser Tage geäußerte Satz „Wir sind da, um Spiele zu gewinnen“ ist als sein Mantra zu verstehen. Und er glaubt an das, was im deutschen Fußball steckt. Weswegen ihm Ergebnisse, die achtbar klingen wie Unentschieden in den Niederlanden und Italien oder gegen England, nicht genügen. Und auch wenn er verwundert und bewundernd in Richtung des 4:0-in-England-Siegers und Tabellenführers Ungarn blickt („Es ist nicht normal, was in der Gruppe passiert“), fühlt er sich verpflichtet, Deutschland zum Final-Four-Turnier 2023 in der Nations League zu führen.
Der 5:2-Erfolg gegen Italien mit zwischenzeitlicher 5:0-Führung war ein Statement. Offiziell der erste Sieg in einem Turnier („Die Nations League ist ja ein kleines“) gegen die Azzurri, vor allem aber bestand die Mannschaft einen „Stresstest“, so Flick. Nach dem schwachen Spiel drei Tage zuvor in Budapest raffte sie sich auf, in jeder Hinsicht: körperlich und mental. „Es war nicht das perfekte Spiel, wir müssen in den fußballschlauen Dingen besser werden“, monierte Thomas Müller einige Fehlpässe und Nachlässigkeiten im Abschluss, doch Hansi Flick durfte sich vor allem in seinem Projekt Vertrauen bestätigt fühlen. Er hält an den Spielern fest, die in der Kritik stehen. An Timo Werner etwa, der nun endlich Tore schoss, zwei Stück. Flick stellte auch Leroy Sané auf, den viele andere Trainer aus dem Kader geworfen hätten. „Er hat ein sensationelles Potenzial, das der Mannschaft helfen kann. Wir als Trainer müssen es bewerten.“ Gegen Italien verballerte Sané einige Abschlüsse, war aber voll im Spiel.
Zur Achse gehört er noch nicht. Die hat Flick nun benannt: „Manuel Neuer – die beiden Innenverteidiger – die Sechs – Thomas. Sie war ballsicher gegen gut stehende Italiener.“ Für Müller hat er, anders als Joachim Löw, eine Position gefunden, in der der Münchner seine Stärken ausspielen kann, Joshua Kimmich hat in den vier Sommer-Spielen zwei Tore geschossen, Süle sich gefangen – und einen besonderen Status genießen Antonio Rüdiger und Manuel Neuer. Bei Rüdiger führt Flick Statistik: „Er hat diese Saison über 6000 Minuten bestritten, das ist außergewöhnlich.“ Umgerechnet sind es an die 70 komplette Spiele. Mit dem Wechsel vom FC Chelsea zu Real Madrid erhöht sich Rüdigers fußballerischer Sozialstatus noch einmal. Manuel Neuer wird vom Bundestrainer als „absolute Weltklasse in der Torverteidigung und mit dem Ball“ geadelt. „Er hat die Gelassenheit und Qualität, die Bälle so zu spielen, dass der, der sie bekommt, was mit ihnen anfangen kann.“
„Das ist Deutschland, und Deutschland hat sehr gut gespielt“, meinte Italiens Europameister-Trainer Roberto Mancini. Sein Team steckt nach verpasster WM-Qualifikation im Neuaufbau. Im Hinspiel gelang gegen die Deutschen noch ein 1:1. Flick zeigte, dass er binnen zehn Tagen seine Mannschaft weiterentwickeln kann. Auch für den September ist er optimistisch, „an der einen oder anderen Stellschraube drehen zu können“. Aber nun geht auch er erst einmal in Urlaub – „mit einem Supergefühl“.