„Jule hat gute Chancen, weit zu kommen“

von Redaktion

TENNIS  Bundestrainerin Barbara Rittner im Interview über das deutsche Talent Niemeier

München – Deutschlands Chefin im Frauentennis verfolgt Wimbledon wie die meisten Fans: vor dem Fernseher. Eine Corona-Erkrankung hinderte die 49-Jährige daran, nach London zu reisen. Mit unserer Zeitung hat die Bundestrainerin über die deutsche Überraschung Jule Niemeier (22) und Serena Williams (40) gesprochen.

Frau Rittner, die Zeit auf der Couch versüßt hat Ihnen sicherlich der Sieg von Jule Niemeier gegen Anett Kontaveit – Ihr Fazit?

Jule hat auf großer Bühne zum richtigen Zeitpunkt ihr bestes Tennis abgerufen. Das wird ihr viel Selbstvertrauen geben für das weitere Turnier, aber auch für ihre Karriere. Sie hat das Spiel: Sie kann gut aufschlagen, hat eine druckvolle Vorhand, den Rückhand-Slice, sie kann ans Netz vorgehen, hat ein gutes Gefühl in der Hand. Sie kann meiner Meinung nach auf jedem Belag an einem guten Tag mit den Besten mitspielen. Jetzt geht es darum, das konstanter abzurufen.

Was kann man von der 22-Jährigen dann erwarten?

Wer die Nr. 2 der Setzliste schlägt, der hat gute Chancen in dem Turnier noch weiter zu kommen. Ich sehe sie gegen Lessja Tsureko leicht in der Favoritenrolle, aber jeder weiß, wie schwer das Match nach dem perfekten Match ist. Aber sowohl in Wimbledon als auch in der Zukunft hat Jule das Potenzial weit nach vorne zu kommen.

Schon vor dem Turnier meinten Sie, dass Sie ihr und Nastasja Schunk die Top 20 zutrauen. Was ist die Zielvorgabe allgemein für diese Generation?

Nur mit Spielern in den Top 100 werden wir den Billie Jean King Cup nicht gewinnen. Darum habe ich bei meinem Antritt 2005, als wir nur eine Spielerin unter den besten 100 hatten, gesagt, dass es das Ziel sein muss, drei oder fünf am besten in den Top 50 zu etablieren. Konkurrenz belebt das Geschäft. Ob es dann zu den besten 30, 20 oder den Top 10 reicht, das hängt am Ende an vielen kleinen Puzzleteilchen.

Sind denn noch mehr Talente im Anflug?

Abgesehen von den Genannten kommt zum Beispiel noch eine Eva Lys nach und auch dahinter noch drei bis sechs jüngere Mädels. Potenzial haben sie alle, aber das Durchhaltevermögen und die Bereitschaft, leiden zu wollen, das müssen die Mädchen mit ihrem Umfeld selbst aufbringen. So wie es die ältere Generation, um Angie Kerber, Andrea Petktovic und Jule Görges an den Tag gelegt hat.

Ebenfalls zur älteren Generation gehört Serena Williams – wie haben Sie ihr Ausscheiden verfolgt?

Eigentlich dachte ich, dass ich nur mal reinschaue, aber dann bin ich bis zum letzten Schlag nicht mehr weggekommen. Eines konnte man dem Match nicht absprechen: Spannung. Unter dem Strich muss man festhalten, dass es sehr bemerkenswert ist, mit welcher Leidenschaft Serena Williams diese Situation angenommen hat, davor habe ich höchsten Respekt und auch vor der Leistung, nach einem Jahr Pause in diesem Alter noch mal so ein Match zu spielen. Viele haben ja davor gefragt, warum sie sich das antut. Diese Antwort hat sie gegeben, es ist ihre Leidenschaft für den Sport.

Überwiegt bei Ihnen nun das Gefühl, dass sie gar nicht so weit weg wäre, wieder die alte zu sein, oder doch, dass es mit ihrer Karriere zu Ende geht?

Na ja, sie war nicht so weit weg von der Nummer 115 der Welt, die das erste Mal überhaupt in Wimbledon in die zweite Runde gekommen ist. Ich habe mir danach gedacht, was wäre passiert, wenn sie gegen eine stärkere Gegnerin gekommen wäre, auch wenn das hypothetisch ist, da es ein anderes Spiel gewesen wäre. Am Ende muss sie selbst wissen, ob sie weitermacht. Aber bei mir überwiegt das Gefühl, dass es mir ein Stück wehtut, eine solch große Persönlichkeit und eine solche Legende, die so dominant war, so spielen zu sehen. Vor dem Fernseher habe ich die ganze Zeit gehofft, dass sie sich nicht verletzt.

Interview: Thomas Jensen

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