Frankfurt – Am Mittwoch beginnt die EM der Frauen im Fußball-Mutterland England. Die Auswahl des DFB geht als Rekordtitelträgerin ins Rennen – und möchte am 31. Juli zum neunten Mal den UEFA-Thron besteigen. Unser Interview mit Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg, 54, die als Spielerin einst viermal die EM gewann.
Frau Voss-Tecklenburg, in Ihrer Vita stehen vier gewonnene EM-Titel von 1989 bis 1997. Was ist als prägendste Erinnerung haften geblieben?
Die Frage ist total einfach zu beantworten: der erste EM-Titel 1989, weil es einfach ein besonderer Rahmen war. Es ging mit dem Halbfinale gegen Italien in Siegen los, wo wir ins Elfmeterschießen mussten. Ich galt mit als sicherste Schützin und habe gleich den ersten Ball fünf Meter übers Tor geschossen – den suchen sie heute noch. Unsere Torhüterin Marion Isbert hat dann drei Elfmeter gehalten und den entscheidenden selbst verwandelt. Plötzlich wussten die Menschen: Es gibt eine deutsche Frauen-Nationalmannschaft, die im Endspiel der Europameisterschaft steht.
Und dann?
Fährst du nach Osnabrück zum Finale und auf einmal ist das Stadion an der Bremer Brücke ausverkauft, das Fernsehen überträgt live – und du spielst dich gegen Norwegen in einen Rausch. Mit dem Moment wurde für die gesamte Entwicklung des Frauen- und Mädchenfußballs in Deutschland etwas losgetreten.
Also ist es rückblickend eigentlich deplatziert, oft nur das damals für den EM-Titel überreichte Kaffeeservice zu erwähnen?
Das wird total zu Unrecht in den Vordergrund geschoben. Wir waren Amateure, der DFB durfte uns damals gar kein Geld zahlen. Es war eher eine symbolhafte Geste, die sich die Funktionäre überlegt haben. Eigentlich ist es doch lustig, dass eine Männerwelt auf die Idee kam, den Frauen ein Kaffeeservice hinzustellen. Es steht übrigens noch zu Hause bei mir in der Küche, und es ist immer wieder schön, es anzuschauen (lacht).
Warum war Deutschland in den Folgejahren im Frauenfußball so viel besser als andere Nationen und wurde bis 2013 achtmal Europameister?
Wir sind in einer Welt groß geworden, in der wir nur mit den Jungs unterwegs waren, uns durchsetzen mussten, und wo wir eine andere Überzeugung in uns getragen haben. Ich habe mich mit Birgit Prinz (die Rekordspielerin arbeitet als Teampsychologin bei den DFB-Frauen, Anm. d. Red.) über das Thema noch mal unterhalten: Wenn eine von uns mal draußen gesessen hat, kamen wir mit einem Selbstverständnis auf den Platz, dass wir das Spiel verändern. Wir hatten mit Gero Bisanz einen überragenden Trainer und eine hohe Identifikation mitgebracht. Wir hatten amateurhafte Strukturen, aber im Herzen waren wir Topprofis! Ich habe überall geschaut, wo kann ich mich verbessern. Dafür habe ich beim MSV Duisburg mittrainiert und meinen Arbeitgeber so gewählt, dass ich möglichst viel Fußball spielen kann – mit dem Wissen, dass ich damit aber kein Geld verdiene, aber es war meine Leidenschaft. Deutschland ist eben eine Fußball-Nation, und das ist geschlechterunabhängig gewesen.
Können Sie diese Eigenschaften bei Ihren Spielerinnen verankern?
Wir wollen ja nicht immer von früher reden, aber wir können versuchen, an diesen Themen zu arbeiten. Ich glaube ja immer noch, dass auch wir eine richtig gute Mannschaft bei der EM sein werden, wenn unsere Spielerinnen eine innere Überzeugung von ihrer Leistungsfähigkeit besitzen. Da sind uns andere Nationen vielleicht ein bisschen voraus.
Warum?
Das hat mit unserer Ausbildung im Fußball zu tun. Vieles ist sehr strukturiert, auch sehr kaserniert. Es ist wenig kreativ, dafür sehr gleichförmig geworden – auch in unserer Gesellschaft. Typen, die ausbrechen, sind selten geworden. Es geht meist darum, keine Fehler zu machen, keine Schwäche zu zeigen – und am besten auch keine schlechten Noten zu schreiben. Dazu kommt: Wir sind einfach kein Sportland! Wir haben keine Sportkultur wie Island. Ein kleines Land, aber der Sport spielt überall eine wichtige Rolle.
Hierzulande nicht?
Ich habe mit unserem DFB-Präsidenten Bernd Neuendorf darüber gesprochen, dass der Sport politisch nicht optimal vertreten ist. Wir sind in der Schule die Ersten, die beim Sportunterricht kürzen. Hallenbäder werden geschlossen, Turnhallen für andere Dinge benötigt, in der Corona-Krise waren Sporteinrichtungen monatelang geschlossen. Die Kinder werden immer übergewichtiger, obwohl erwiesen ist, dass Aktivität auch das Lernvermögen steigert. Auf dieser Grundebene ist Deutschland für mich kein Sportland mehr.
Erklärt das auch, warum Deutschland im Frauenfußball nicht mehr die Führungsposition innehat?
Die Spanier setzen seit Jahren auf eine freie Spielkultur, um die Kreativität zu fördern; die Engländer haben viele Jahre vor uns erkannt, dass ihre Talentausbildung eine andere sein muss, wenn möglichst viele oben ankommen sollen. Und in der Schweiz ist es an der Akademie so, dass noch im Fußballinternat auch noch zwei andere Sportarten gelehrt wurden. Da fehlt mir hier auch noch ein bisschen was. Das sind aber Themen, die müssen Politik, Gesellschaft und Sportverbände gemeinsam anpacken – am besten schon im Kindergarten und in der Grundschule.
Die Zahl der aktiven Spielerinnen ist von einst knapp 280 000 auf zuletzt 187 000 geschrumpft. Sehen Sie keinen Widerspruch darin, dass der DFB in Person eines Direktors Oliver Bierhoff das Halbfinale für die Frauen-EM in England einfordert?
Wir sind immer noch die Fußball-Nation Deutschland und davon überzeugt, dass wir hohe Ziele setzen müssen, um so intensiv weiterzuarbeiten. Ich würde nicht davon erzählen, wenn ich nicht absolut vom Potenzial meiner Mannschaft überzeugt wäre. Früher haben vielleicht zwei, drei andere Nationen gesagt, sie wollen Europameister werden, heute sind es sechs, sieben. Dass wir dazugehören, bringt auch einen Anspruch für die Zukunft mit sich: Was machen wir denn, wenn die Zahl der Mädchen und Frauen, die Fußball spielen, noch weiter absinkt?
Sie sprechen wie selbstverständlich von Mädchen und Jungs. Doch von gleichen Prämien ist der DFB weit entfernt. Trotzdem sind 60 000 Euro für einen EM-Titel eine Rekordprämie. Was sagen Sie zur Equal-Pay-Debatte?
Ich finde gut, dass unser Verband mehr an die Spielerinnen weitergibt, wenn auch mehr hereinkommt. Der Auftrag an die FIFA und die UEFA ist, dass es irgendwann ein Prämiensystem gibt, wo es für alle gleich ist – das würden wir uns wünschen. Ich sage aber auch, dass das, was im Männerfußball passiert, einfach überdimensioniert ist. Das sind Bereiche, die der normale Fan nicht mehr nachvollziehen kann. Deshalb möchte ich mich gar nicht an Zahlen binden, sondern es muss sich annähern: Beim Männerfußball weniger und bei uns vielleicht ein bisschen mehr.
Wie gut ist Ihr Verhältnis zu Hansi Flick?
Für die Kürze der Zeit haben wir schon sehr viel Austausch gehabt. Wir haben uns vor einigen Wochen mit beiden Trainerteams in Frankfurt getroffen und sehr lange zusammengesessen. Es ist wirklich so, dass ich mit Hansi schon mehrfach lange telefoniert habe. Und wir merken beide, dass es sich lohnt, in den Austausch zu gehen. Wir versuchen voneinander zu profitieren.
Interview: Frank Hellmann