Shane Gould, Schwimmerin aus Australien, gehörte mit dreimal Gold, einmal Silber und Bronze zu den ganz großen Stars der Olympischen Spiele 1972. Sie war erst 15, bei den Siegerehrungen hielt sie ein Stoffkänguru, das ihr eine Teamkollegin zugesteckt hatte, in Händen. Doch ihre Sportkarriere endete bereits gut ein Jahr nach München. Aber warum? Und was kam dann? Ein Gespräch mit der heute 65-Jährigen.
Frau Gould, wie präsent sind Ihnen die Tage von München noch?
Lange her, aber es sind schöne Erinnerungen an ein großes Ereignis in meinem Leben. Ich war so jung, 15, das hat meine Identität geformt und starken Einfluss auf mein Selbstbildnis genommen. Ich nehme den Erfolg und die Lehren daraus als einen Schatz wahr.
Sie waren 1972 relativ lange in München: Zwei Wochen vor Beginn und bis zum Ende der Spiele, also gut einen Monat.
Als junges Teammitglied hatte ich 1972 aber nicht die Möglichkeit, in die Stadt loszuziehen. Nach dem Attentat – und da waren meine Wettkämpfe auch gerade vorbei – haben mich meine Eltern nach Trudering geholt, wo sie während der Spiele untergekommen waren. Sie sind mit mir in die Alpen gefahren, wo ich erstmals Schnee gesehen habe, und in den Schwarzwald. Worin mir die Zeit in München definitiv geholfen hat: Ich hatte in Australien an der Schule seit drei Jahren deutsche Sprache und Kultur – ich bin leichter durch meine Deutsch-Prüfungen gekommen. Im Jahr 2000 bin ich nach München zu den Masters-Schwimm-Weltmeisterschaften zurückgekehrt. Dazu habe ich mich entschlossen, um München richtig zu sehen. Als ich wieder in diesen Pool sprang – das war ein Déjà-vu-Erlebnis. Ich wusste, dass sie daran Renovierungen vorgenommen hatten, doch ich erinnerte mich an die Fliesen auf dem Grund des Beckens. Sie waren viel klarer sichtbar, weil ich nun eine Schwimmbrille trug, so etwas gab es 1972 noch nicht. Meine Erinnerungen wurden spürbar. An alles: an die Farben Münchens, die Architektur, den Pomp der Feiern und die Blaskapellen, die Grashügel, das wunderschöne Maskottchen Waldi. Ich habe dann auch eine Tafel gesehen, auf der mein Name graviert war, und wie das Olympische Dorf sich entwickelt hat: In den Hochhäusern lebten Familien, in den Bungalows Studenten.
Zunächst aber hat Ihnen 1972 zu schaffen gemacht. Durch Ihren Erfolg verspürten Sie Entfremdung von den anderen im Team, und im Rückblick sagten Sie, es habe in München zwei Shane Goulds gegeben: die Figur für die Medien, glücklich, erfolgreich – jedoch auch das Mädchen, das in die Welt der Erwachsenen katapultiert wurde und sich dort fremd fühlte.
Ich habe darüber nachgedacht und andere Menschen beobachtet, die aus Teams herausragen und denen besondere Aufmerksamkeit entgegenschlägt. Für mich war es damals praktisch, dass die Manager und Coaches viel Zeit in mich investieren mussten, weil auf mich besondere Herausforderungen zukamen. Sie mussten mich behüten, ich war ein Kind, ein Teenager. Ja, das hat zu einer Entfremdung geführt, aber es war der Preis, um erfolgreich zu sein.
Mark Spitz war der Star bei den Männern, er wurde nach den Spielen zur Werbeikone, zum Millionär. Ihre Story ging erst einmal so weiter, dass Sie von zuhause mit Ihren Ersparnissen, 30 Dollar, für ein paar Tage davonliefen.
Diese Geschichte mit den 30 Dollar habe ich erzählt, um zu zeigen, dass ich eigentlich ein normales Mädchen war, das sich und seinen Weg gesucht hat – halt in einer Welt, die durch meine Bekanntheit, meinen Ruhm kompliziert geworden war.
Sie hörten auf, nach einmal Olympia, mit 16 – da denkt jeder: Um Geld zu verdienen, musste das wohl so sein.
Es war zu dieser Zeit eine sehr strikte Sache mit dem Amateurstatus. Den verlor man, wenn man mit seinem Sport Geld verdiente. Die Idee, mit 16 aufzuhören, bedeutete etwas anderes als 2020. Die Welt war eine andere, alles geschah langsamer, ohne sofortige Kommunikation und Resultate. Sportstars wurden auf andere Art benutzt, um Produkte zu verkaufen. Und ich glaube, wenn ich ein Mann gewesen wäre, hätte man Wege gefunden, mich im Sport zu halten.
Doch Sie verschwanden – anders als Spitz – weitgehend aus der Öffentlichkeit,
Ich habe mich als projektgetriebene Person identifiziert. Ich mag Projekte: Man träumt von etwas, entwickelt es, lebt es und legt es zu den Akten – und macht dann etwas anderes. Das Training ab dem siebten, achten Lebensjahr, die Wettkämpfe – das war das Projekt, das zur Identität „Shane Gould, die Schwimmerin“ geführt hat, an meinem 17. Geburtstag habe ich es abgeschlossen und war sehr zufrieden. Obwohl das eine so kraftvolle Identität war, hatte ich den Instinkt: Da gibt es noch mehr in mir und für mich zu entdecken, zu entwickeln und auszudrücken. Das ist Teil des Problems als Wunderkind, das ich war. Wir sehen junge Musiker, Schauspieler, die zu kämpfen haben, wenn sie reifen. Sie stecken in einer Mono-Identität fest und müssen andere Aspekte ihres Charakters ausfindig machen. Ich habe viele interessante Dinge in meinem Leben gemacht, weil ich viele Interessen habe: Pferde, Landwirtschaft, Kultur, Fotografie. Und es ist auch ein Teil von mir, eine verheiratete Frau zu sein und Kinder aufzuziehen. Ich musste allerdings auch erst lernen, das wieder zu umarmen, was ich einige Zeit verleugnet hatte: meine Zeit als Sportlerin. Mein erster Mann war kein Sportfan, das führte trotz vieler gemeinsamer Interessen zum Konflikt. Er hat die öffentliche Energie, die das Prädikat „Shane Gould, die Schwimmerin“ hatte, als bedrohlich empfunden.
Wie sind Ihre Familienverhältnisse heute?
Mein ältester Sohn hat eine deutsche Frau, sie stammt aus Dresden, geheiratet, sie leben in Dortmund seit sechs Jahren und haben zwei Kinder – also gibt es eine deutsche Linie der Gould-Familie. Mein Sohn war dann auch in München, er besichtigte das Olympische Dorf und schwamm im Pool, in dem ich geschwommen war. Dadurch wurde das für ihn alles greifbarer, was seine Mama gemacht hatte. Mein jetziger Ehemann und ich reisen viel, wir haben ein Projekt in Schweden, bei dem wir Menschen mit Gehirnschädigungen oder Autismus helfen, das Wasser zu genießen. Die Aufenthalte dort nutze ich zu Abstechern nach Dortmund – gerne mit dem Zug. Ich mag es, die Landschaft aus dem Fenster zu beobachten, das Alter der Zivilisation in Deutschland ist doch ein deutlicher Kontrast zu Australien. Meine Bindung zu Deutschland ist stark, es war immer auf meinem Radar – ich habe ja auch vor 1972 in der Schulbibliothek in die Zeitungen geschaut, um zu sehen, wie das Wetter in München ist.
In Ihrer Autobiografie „Tumble Turns“ schlossen Sie 1997 eine Lebensphase von „25 Jahren Selbstmitleid“ ab.
Ich weiß nicht, ob es Selbstmitleid war. Eher Verwirrung. Ich bin ein Mensch, der forscht, ich wollte wissen: Was hat es für eine Bedeutung, Olympiasieger zu sein, wie passt es in mein Leben? Es war eine seltsame Erfahrung, für die ich vielleicht hätte älter sein müssen: Trainieren, in Wettkämpfen schwimmen, das war leicht. Aber in die Welt der Erwachsenen geworfen zu werden, das kann dich als Person limitieren.
Der wichtigste Satz Ihres Buches: Ein olympischer Champion zu sein, ist wie ein Brandzeichen zu tragen, am Körper, in der Seele.
Das glaube ich auch 25 Jahre, nachdem ich es geschrieben habe. Es war Privileg und Verantwortung gegenüber meinem Erfolg. In Australien bin ich sehr bekannt, wohl berühmt, eine Sportlegende – aber ich habe nie ein typisches Prominentenleben geführt, mich nie verkaufen müssen. Ich nutze meine Bekanntheit aus, für Auftritte als Rednerin nehme ich ein Honorar, freue mich, interessante Leute zu treffen, jungen Athleten mit Fundraising zu helfen und eine Bühne für meine Ideen zu finden. Das ist mehr Infotainment als Entertainment. Ja, ich trage das Brandzeichen als Olympiasiegerin und nutze es.
Interview: Günter Klein