Im Juli 2015 betritt ein hagerer, älterer Herr die Tartanbahn des Münchner Olympiastadions. Er trägt ein ärmelloses Shirt, auf dem „USA“ steht, es hat erkennbar den Schnitt einer längst vergangenen Zeit. Er geht zur Linie, an der der 100-Meter-Lauf gestartet wird. Er sprintet los, soweit ihm das seine 65 Jahre gestatten. Es werden keine 100 Meter, „eher 50“, wie er sagt, aber das ist jetzt egal. Eddie Hart wollte eine symbolische Handlung vollbringen und mit 43 Jahren Verspätung sein Rennen laufen. Das, das ihm am 31. August 1972 verwehrt worden war. Er hatte der schnellste Mann der Welt werden wollen – und wurde zur Lachnummer der Olympischen Spiele. Eddie Hart war einer der beiden amerikanischen Sprinter, die ihren Lauf verpennten – so erzählt man es sich bis heute.
Die Geschichte ist gnadenlos, sie pickt sich diesen einen Moment heraus, der auf ewig mit den Betroffenen verbunden bleibt. Was davor und danach war, interessiert niemanden mehr. Und nachzuforschen, warum etwas geschehen ist, würde der Anekdote ihre Unfassbarkeit nehmen. Also bleibt das Missgeschick zweier Sportler ohne weitere Erläuterung im Olympiabuch stehen. Sie müssen damit klarkommen über Jahrzehnte – wie Eddie Hart, in dem es 43 Jahre lang gewühlt hat.
Eddie Hart und Rey Robinson waren die damaligen 100-Meter-Weltrekordler. Hart war seine 9,90 Sekunden bei den Trials, der knallharten Olympia-Ausscheidung der USA, gelaufen. Acht amerikanische Sprinter rannten unter 10,10 Sekunden – mit dieser Zeit hätte ein jeder das Olympia-Finale von München gewinnen können. Die drei Schnellsten der Trials wurden für München nominiert: Hart, Robinson und David Taylor.
Für 31. August waren die ersten beiden Runden angesetzt: Vorläufe, Viertelfinals. Vormittags, nachmittags. Dazwischen sollte genügend Zeit sein, sich ins nahe Athletendorf zur Ruhe zurückzuziehen.
Eddie Hart legte sich, zurück vom Vorlauf, auf sein Bett und blätterte durch die Unterlagen, die er bekommen hatte. Er sah den Zeitplan der Leichtathletik und war sich nicht mehr sicher, ob der identisch war mit dem, den Sprinttrainer Stan Wright hatte. „Ich ging auf Stans Zimmer, und er meinte: Dann gehen wir sicherheitshalber früher rüber ins Stadion.“ Sie trommelten Robinson und Taylor zusammen, stellten sich an die Haltestelle des Shuttlebusses. Dort liefen auf einem Monitor die 100-Meter-Läufe. Eine Aufzeichnung? „Das ist live“, sagten Leute vom US-Sender ABC, die dort auch standen. „Wir waren in einem Albtraum mitten am Tag“, wusste Eddie Hart. Mit einem Kleinbus raste man Richtung Stadion, in falscher Richtung die Einbahnstraße entlang, um einen abwehrend winkenden Polizisten herum. Die Amerikaner hasteten durch den Tunnel ins Stadion – und trafen dort auf die Realität: Der Lauf von Rey Robinson war vorbei, der von Eddie Hart startete, als sie 20 Meter entfernt waren. Nur Taylor konnte noch laufen, zum Warmmachen mussten ihm ein paar Kniebeugen genügen, er kam locker weiter. Hart: „Wir hätten es in Bademänteln und Pantoffeln geschafft.“ Coach Wright versuchte noch, zu intervenieren, für Robinson und Hart Plätze in den ausstehenden Viertelfinalläufen herauszuhandeln – vergebens.
Wer trug Schuld, wo lag der Fehler? Stan Wright hatte einen überholten Zeitplan, in dem die 100-m-Läufe nach der Qualifikation über 10 000 Meter vorgesehen waren. Die Reihenfolge war umgedreht worden, in den Tageszeitungen des 31. August stand es final und richtig. Im Olympia-Team der USA hatte George Wilson es wohl versäumt, den neuen Plan an Wright weiterzuschicken. Wilson war eigentlich Angestellter des Verteidigungsministeriums und in München zuständig für die Sportler der Army – doch offensichtlich nahm ihn ein US-Einspruch wegen eines Materialstreits beim Stabhochsprung so sehr in Anspruch, dass er eine andere Aufgabe übersah.
Wie ging es den Beteiligten danach? Für Eddie Hart war es das Lebensziel gewesen, zum schnellsten Mann der Welt zu werden. Das hatte ihm über depressive Phasen hinweggeholfen. Nach der Disqualifikation ging er „eineinhalb Stunden unter die Dusche“. Er sammelte sich: „Meine Eltern hatten immer gesagt: ,Bei uns gilt wie bei den Kennedys: Wir weinen nicht in der Öffentlichkeit.’ Und sie hatten mich gelehrt, nie zu reagieren, sondern zu antworten.“ Die Antwort lautete: Hart schaute sich das 100-Meter-Finale an, in dem Robert Taylor Zweiter wurde – hinter Valery Borsow aus der Sowjetunion. Und er konzentrierte sich auf die Staffel, in der er Schlussläufer war. Er gewann sein Gold. Gegen Borsow.
Im Nachgang findet er, als Olympiasieger sei er viel selbstbewusster geworden, das habe seiner Berufslaufbahn als Lehrer und Trainer gutgetan, er könne vor Leuten auftreten, mitreißend sein. Er erhielt nach Olympia einen mitfühlenden Brief von US-Präsident Richard Nixon – von den Sportfunktionären habe ihn niemand tröstend in den Arm genommen. Gegenüber Stan Wright hegte er niemals Groll. „Ich liebte ihn.“
Rey Robinson war nicht für die Staffel nominiert worden, er sah den Triumph der Kollegen beim Umsteigen auf dem Heimflug. Er war voller Bitternis, vor allem gegenüber Stan Wright: „Ich habe ihn für den schlechtesten Menschen auf dem Planeten gehalten. Ich habe mich erniedrige gefühlt, schlimmer als beim Tod meiner Mutter.“ Als er sich für Montreal 1976 nicht qualifizieren konnte, hörte Robinson auf.
Stan Wright tat sich nach München schwer, gute Anstellungen zu finden. „Sein Herz war gebrochen“, so Eddie Hart. Der Coach starb 1998.
Als Hart vor sieben Jahren beschloss, seine München-Geschichte für ein Buch aufzuarbeiten, telefonierte er mit Robinson. Bei dem war zur Blamage, den Lauf verpasst zu haben, noch der verstärkende Faktor dazugekommen, dass sein Vater und seine Großtante in München im Stadion waren – die Gemeinde hatte die Reise finanziert. Aber: „Es ist kein Loch mehr in meinem Herzen. Mein Leben war erfolgreich.“ Beide sind sich einig: Das viel schrecklichere Ereignis 1972 war der Anschlag auf die israelische Olympia-Mannschaft: „Die Israelis verloren ihr Leben, wir wurden nur disqualifiziert.“
„Wir wurden unschuldig disqualifiziert“, sagt Eddie Hart noch heute. Er verweist auf Rio de Janeiro 2016. Ähnlicher Fall: Drei Schwimmer aus Großbritannien, Belarus und Dänemark wurden vom Fahrdienst ins falsche Stadion gebracht, 40 Minuten entfernt. Man zog dann zwei Siegerehrungen vor und wartete auf sie.
Immer zu Olympiajahren bekommen Hart und Robinson noch Anrufe und Anfragen für Interviews. Weil sie für eine einmalige Geschichte stehen. „An uns wird man sich erinnern, solange es Olympische Spiele gibt.“
Eddie Hart hat seinen Frieden mit München gemacht. Bei seinem Besuch 2015 mit seinem Sohn ist er viel Straßenbahn gefahren und hat sich vorgenommen, dass er mit dem Enkel noch einmal kommen will.
Und wohl für diesen Moment alleine auf der Tartanbahn hat er sein Original-Trikot von 1972 aufbewahrt. Er ist stolz, dass es ihm noch passt. Valery Borsow hingegen, der Olympiasieger über die 100 und 200 Meter und einer der großen Stars von München, ist aus dem Leim gegangen. „Borsow, lass uns laufen, du hast Zeit, um in Form zu kommen“, hat Hart zum zweiten Abschied aus München gesagt.