„Pogacar macht keine taktischen Fehler“

von Redaktion

TV-Experte Jens Voigt über die Tour, ihren Dominator und die deutschen Perspektiven

München – Zumindest die Tour de France holt Jens Voigt immer wieder ein – als Eurosport-Experte schaut der 50-Jährige den Ex-Kollegen auf die Finger. Und er hat auch in diesem Jahr, nach knapp der Hälfte der Etappen, ein klares Urteil.

Herr Voigt, jetzt, beim Saisonhighlight, juckt es wieder in den Beinen?

Oh nein, mir hat am Ende jede Zelle meines Körpers gesagt: Mir reicht´s. Es juckt ein bisschen, bevor es losgeht. Wenn man die nagelneuen Trikots sieht, die Fahrer sind frisch rasiert und sehen aus wie das blühende Leben. Aber dann kommt die erste Etappe und die ersten Stürze… Aber ganz ehrlich, ich habe auch erst im Ruhestand bemerkt, wie gefährlich die Tour eigentlich ist.

Oder mit anderen Worten: wie bekloppt man war?

Ja, genau. Du fährst mit Puls 200 den Berg hoch, wo es vielleicht vier Grad hat, dann fährst du mit 80, 90 Sachen wieder runter, wo es dann 38 Grad hat. Es ist einfach auch eine Tour der Leiden.

In der ersten Woche sind die angesprochenen Stürze bereits einigen Fahrern zum Verhängnis geworden. Sind diese Situationen vermeidbar?

Schwierig. Es ist das wichtigste Rennen, jeder geht ein paar Prozent mehr Risiko. Dazu kommt der Tourfunk, der Fluch und Segen ist. Da hörst du: „Bei Kilometer 33,7 ist ein Hindernis, da müsst ihr vorne sein“. Das versucht dann jeder. Aber 160 Fahrer passen da nicht hin. Es fehlt sicher ein bisschen der Chef im Peloton, der Patron, der die Ansage macht. Passt auf, wir fahren das jetzt so.

Unter anderem stürzte Primoz Roglic. In der Folge gab es von Maxi Schachmann heftige Kritik.

Und da muss ich ihm Recht geben. Ich denke da an Wout van Aert, den man vor zwei Jahren nach einer Etappe mal gefragt hat, was denn passieren muss, damit man die Tour gewinnen kann. Direkt nach einer Etappe ist man ehrlich und er sagte: „Es wäre ein Anfang, auf dem Rad zu bleiben.“ Das muss man schon sagen: Wenn es ein, zwei, dreimal passiert, dann kann man von Pech reden. Wenn es aber fünf, sechs oder sieben Mal passiert, dann sieht es anders aus. Dann muss man es vielleicht im richtigen Moment auch mal gut sein lassen. Roglic hat noch den Vorteil, als prominenter Fahrer auch mal vorgelassen zu werden. Aber das hat auch Grenzen.

Tadej Pogacar scheint das Problem nicht zu haben…

Sieht so aus. Pogacar macht keine taktischen Fehler. Er ist physisch genauso stark wie die anderen Fahrer, aber er macht keine Fehler, und deswegen ist er ganz vorne. Das war schon sehr beeindruckend.

Ist an seiner Position noch zu kratzen?

Als Experte sage ich: Klares nein, das Ding ist schon seit fünf Tagen gelaufen. Wenn er keinen großen Fehler macht, stürzt oder krank wird, dann wird er seinen dritten Toursieg in Folge holen. Als Fan sage ich: Ach, wir haben doch noch den Vingegaard. Aber man darf nicht vergessen, dass die Tour in der zweiten Hälfte eine andere Dynamik bekommt. Dann neutralisieren sich Jumbo und Ineos vielleicht gegenseitig. Und Pogacar freut sich, dass er gar nichts machen muss. Oder wenn die zusammenarbeiten, dann kommen die Franzosen, die man nie unterschätzen darf. Überhaupt: Es sind noch 16 Teams, die nichts gewonnen haben und die Uhr tickt runter.

Zu den Sieglosen gehört auch BORA-hansgrohe. Überrascht?

Nein, BORA ist mit einem unheimlich starken Alexander Vlasov in die Tour gegangen, bei dem man berechtigte Hoffnungen hatte, dass er aufs Podium fahren kann. Nun hat er Zeit verloren und es ist klar: das kann er nicht mehr schaffen. Deswegen werden die Ziele aufgeweitet. Dann bekommen einige Fahrer mehr Freiheiten.

Lennard Kämna müsste nach ihrem Geschmack sein. Er ist ein Ausreißer, wie Sie. Nun rückte er sogar nahe an Gelb.

Klar, mein Herz schlägt für die Ausreißer, die Außenseiter. Toll, wie er das gemacht hat. Hoffentlich hat er sich nicht zu sehr leer gefahren.

Vielleicht kann er ja in eine Art Joker-Rolle schlüpfen. Allerdings: Er fährt seit der ersten Girowoche in Höchstform, das kann er eigentlich nicht halten. Verstehen Sie mich nicht falsch, der Junge ist zehn Mal besser als ich es je war. Aber man kann nicht zehn Wochen auf dem Niveau fahren.

Ein Kandidat weniger für einen deutschen Etappensieg.

Mal schauen. Aber ich wage mal einen Geheimtipp: Georg Zimmermann und Jonas Rutsch, von den beiden halte ich ungeheuer viel. Die beiden sind so gut, die können stundenlang hohes Tempo fahren. Das haben die bei dieser Tour nur noch gar nicht zeigen dürfen. Wenn die mal ein bisschen mehr Freiheit bekommen, dann können die das packen, ganz sicher.

Interview: Patrick Reichelt

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