Bruce Kennedy hält einen traurigen Olympischen Rekord: Dreimal war er sportlich qualifiziert, kein einziges Mal konnte er an den Spielen teilnehmen – die Strähne des Unglücks nahm 1972 in München ihren Anfang. Kennedy, damals 21, wollte für sein Heimatland Rhodesien im Speerwurf an den Start gehen. Doch Rhodesien, in dem Apartheid herrschte, wurde kurzfristig ausgeschlossen, weil Sportler aus 27 schwarzafrikanischen Staaten mit einem Boykott drohten. Mit 36:34 Stimmen fiel die Abstimmung des IOC knapp gegen Rhodesien aus.
Herr Kennedy, vier Tage vor der Eröffnungsfeier, am 22. August 1972, wurde Rhodesien von Olympia ausgeschlossen. Sie und das Team waren da ja wohl schon in München.
Wir sind am 12. August in München angekommen. Es gab ein Leichtathletik-Meeting in Kempten, zu dem wir eingeladen waren. Es waren auch Athleten von anderen Mannschaften da, die den Wettbewerb aus Protest gegen unsere Anwesenheit boykottierten. Das war das erste Anzeichen, dass es Widerstand gegen unsere Olympia-Teilnahme geben würde.
Hatten Sie schon eine Akkreditierung und die Zimmer im Olympischen Dorf bezogen?
Wir wurden bei unserer Ankunft wie jedes andere Team behandelt. Alle Athleten und Offiziellen hatten eine reguläre Akkreditierung, die uns Zugang zum Dorf und den Trainingsstätten ermöglichte. Es gab eine Zeremonie im Dorf, bei der auch die rhodesische Flagge gehisst wurde.
Wie haben Sie und die anderen Teammitglieder von der IOC-Entscheidung erfahren?
Ich glaube, unser Teammanager hat ein Meeting einberufen und uns mitgeteilt, dass das IOC und das Münchner Organisationskomitee sich entschlossen haben, unsere Einladung zurückzuziehen, um den Boykott einer großen Anzahl Länder oder einzelner Athleten zu vermeiden.
Wie fielen die Reaktionen aus? Die rhodesische Mannschaft bestand aus 46 Leuten, aus Weißen und Schwarzen.
Ich war möglicherweise besser vorbereitet auf die Entscheidung als die meisten. Ich war schon seit drei Jahren an der University of California in Berkeley und hatte eine Ahnung, wie Rhodesien von vielen Menschen wahrgenommen wurde. Natürlich herrschte Enttäuschung unter allen Sportlern und Offiziellen, doch wir konnten diese Dinge nicht kontrollieren und mussten sie daher akzeptieren.
Mussten Sie München sofort verlassen – oder gab es eine Option zu bleiben?
Wir sind aus dem Olympischen Dorf ausgezogen, man wies uns eine Unterkunft in einer früheren US-Kaserne zu, soweit ich mich erinnere. Unsere Akkreditierungen durften wir behalten, so hatten wir weiter Zugang zum Dorf und konnten alle Wettbewerbe in unserem Sport verfolgen. Das Organisationskomitee hat uns großzügig Tickets gegeben, sodass wir die Spiele in ihrer Breite genießen konnten. Das habe ich ausgenutzt. Ich sah Klaus Wolfermann mit seinen 90,48 Metern im Speerwurf vor Janis Lusis mit 90,46 siegen, das war ja überhaupt ein großer Tag für die deutschen Leichtathleten mit dreimal Gold in einer Stunde.
Speziell die Speerwerfer galten als große Familie. Konnten Sie sich von den anderen verabschieden?
Ich kannte nur die drei Amerikaner, und unsere Wege haben sich in München dann nicht gekreuzt. Überhaupt muss ich sagen, dass ich von keinem Sportler Animositäten wahrgenommen hätte. Es waren freilich auch alle auf ihre Wettbewerbe konzentriert.
Hätten Sie es ins Speerwurf-Finale geschafft?
1972 war ich der beste Werfer aus einem kleinen Land, aber nicht auf internationalem Level. Meine Bestweite waren 76 Meter.
Bei unserem ersten Kontakt wegen dieses Interviews überraschten Sie mit einem bayerischen „Grüß Gott“. Das lässt darauf schließen, dass Sie einige Zeit in München verbracht haben.
Vier Monate. Mein Deutsch ist aber nicht so gut, ich habe versucht, es mir mit einem Buch „Deutsch leicht gemacht“ selbst beizubringen. Seit nunmehr fast 50 Jahren habe ich es nicht mehr gesprochen.
Erzählen Sie uns von Ihrem Leben als Sportler.
1969 erhielt ich ein Stipendium für Berkeley. Mit 18 stand meine Bestleistung bei 67,50 Metern, damit wäre ich in den USA zweitbester Werfer einer High School gewesen. Im März 1970 habe ich beim ersten Wettkampf für meine Uni 73,35 Meter geschafft und mich eine Woche später auf 76.10 verbessert. Der nächste Sprung 1973 auf 81,48, damit wurde ich Zweiter der NCAA-Meisterschaften. Olympia hatte ich mit 10 Jahren wahrgenommen, weil mein Vater ein sehr aktiver Sportfunktionär in Rhodesien war. Mit 15 habe ich mit Speerwerfen begonnen, aber es dauerte, bis mir die Spiele als realistisches Ziel erschienen.
1972 hatten Sie schon den Blick von außen auf Rhodesien. Wie beurteilen Sie den Ausschluss aus politischer Sicht?
Zweifellos war ich durch damals schon drei Jahre im Ausland informiert darüber, wie der Rest der Welt Rhodesien politisch wahrnahm. Ich glaube, viele meiner Teamgefährten hatten diese internationale Perspektive nicht. Ich denke, das IOC hatte keine andere Möglichkeit, als uns auszuschließen – sonst wären die Olympischen Spiele von München ruiniert gewesen. Man kann argumentieren, dass Sport und Politik nicht vermischt werden sollten, doch das ist unrealistisch. Allerdings ist die Realität auch, dass Aktionen in der Arena des Sports nie Einfluss auf die politische Situation genommen haben. Es gab ja noch so viele andere Beispiele als nur unseren Ausschluss. 1976 boykottierten 20 afrikanische Länder Montreal, weil Neuseeland Rugby gegen Südafrika gespielt hatte. Der 1980 von den USA angeführte Boykott der Moskauer Spiele hatte keinen Einfluss auf die russische Außenpolitik. Und jetzt gerade der Ausschluss russischer Tennisspieler von Wimbledon ebenso wenig.
Rhodesien durfte auch 1976 nicht teilnehmen. Die zweiten Spiele, die Sie verpasst haben.
Da hat man uns gar nicht erst eingeladen, um Probleme zu vermeiden.
1980 dann folgende Verrücktheit: Sie waren US-Bürger geworden, qualifizierten sich wieder sportlich für Olympia, doch die USA nahmen nicht teil. Dafür war Rhodesien, das nun Simbabwe hieß, am Start.
Zwischen 1973 und 79 hatte ich mich um keinen einzigen Zentimeter verbessert. Dann verbrachte ich eine Woche mit Coach Tom Tellez, der meine Technik korrigierte. Ich verbesserte mich um fast sieben Meter! Als die USA den Boykott verkündeten, habe ich aus Protest weitertrainiert, es wurden auch Trials abgehalten, als ginge es um die Qualifikation für Moskau. Kurz vor Olympia warf ich 87,70 Meter. Möglich, dass das IOC mir eine Teilnahme für Simbabwe erlaubt hätte, doch ich habe meine amerikanische Staatsbürgerschaft sehr ernst genommen und wollte nicht aus sportlichen Gründen wechseln.
1984 waren Sie in Los Angeles dann doch bei Olympia – als Platzanweiser.
Ich hatte versucht, mich fürs US-Team zu qualifizieren, war jedoch mit meinem Master-Abschluss in Stanford beschäftigt. Ein guter Freund von mir, Bill Schmidt, Bronzemedaillengewinner mit dem Speer in München, arbeitete in der Organisation und hat mir den Job verschafft. In L.A. sah ich so jede Minute der Leichtathletik, die Eröffnungs- und die Schlussfeier.
Versöhnt mit Olympia?
Ich habe mich mit meinem dreimaligen Verpassen nicht lange aufgehalten. Die ersten beiden Male war ich Sportler aus einem kleinen Land und hatte kein olympisches Kaliber. 1980 war enttäuschend, doch ich war auch glücklich über meine Leistung und dass ich mit den Besten der Welt mithalten konnte. Ich habe mich immer an Eddie Hart orientiert, der mein Teamgefährte an der Uni war: Er ging als 100-Meter-Favorit nach München und verpasste wegen eines Fehlers seines Trainers seinen Lauf. Trotz der Enttäuschung hat Eddie alles richtig eingeordnet: Er hatte ein Rennen verpasst, während israelische Athleten und Offizielle in München ihr Leben verloren.
Was haben Sie aus Ihrer speziellen Geschichte fürs Leben mitgenommen?
Zielsetzung, Disziplin – das ist bei jedem so. Meine Hauptlektion war: Lass Dinge, die du nicht kontrollieren kannst, nicht die Kontrolle über dich übernehmen.
Interview: Günter Klein