München – „Ich habe keine Zeit, um Angst zu haben“, sagt Sebastian Steudtner (37), wenn er seine Gefühle auf den Riesenwellen im portugiesischen Nazaré beschreibt. Seit Mai ist er Weltrekordhalter, satte 26,21 Meter Höhe maß das Monster, das vom Guinness-Institut zur größten je gesurften Welle erklärt wurde. Zum Vergleich: Der Chinesische Turm in München misst 25 Meter. Dort trafen wir Steudtner zum Interview.
Herr Steudtner, wir waren gerade zusammen am Eisbach, Sie kommen direkt aus Portugal, die Surfindustrie wirbt weltweit mit dem lockeren Lifestyle von schönen Menschen beim Wellenreiten am Strand. Reden wir jetzt überhaupt über richtigen Sport?
Vor allem reden wir über verschiedene Sportarten. Big-Wave-Surfen ist etwas völlig anderes als normales Wellenreiten, und das Surfen auf der Eisbachwelle ist wieder was anderes. Aber uns allen geht es letztlich um den Sport – wenn wir auf dem Brett stehen, dann sind wir Athleten. Party kann man, wenn man will, davor und danach machen, da ist schon sehr viel Klischee bei diesem Bild.
Angesichts der Gefahr, von einer 20-Meter-Welle mit Zigtausenden Tonnen Wasser begraben zu werden, ist vermutlich ohnehin mehr Training als Party angeraten, oder?
Klar, wir müssen in jeder Hinsicht fit sein: Mental und physisch. Ich trainiere an mindestens sechs Tagen pro Woche, fast immer über sechs Stunden. Das ist mein Job, meine Lebensversicherung. Wenn ich nicht auf meinem Toplevel bin, dann wird es gefährlich. Mein Fitness-Zustand ist also sehr wichtig, weshalb ich auch seit Jahren mit Prof. Radosav Djukic zusammenarbeite, dem früheren Trainer von Hermann Maier.
Toplevel heißt zum Beispiel auch, dass Sie sechs Minuten die Luft anhalten können. Stimmt das?
Ja, unter idealen Bedingungen, also im Pool bei Apnoe-Übungen. Ich habe inzwischen gelernt, die Luft so lange zu halten, bis ich ohnmächtig werde, denn das kann mir das Leben retten.
Das müssen Sie erklären.
Wenn du in einer richtig großen Welle stürzt, dann wird es ziemlich wild: Erst fällst du ein paar Meter durch eine Art Luftblase, bevor du aufs Wasser aufschlägst. Das Wasser bewegt sich wiederum in eine andere Richtung, kann dich wieder nach oben oder vorne schleudern, und es wird dich auf jeden Fall unter Wasser drücken, da bist du den Kräften völlig ausgeliefert. Das ist wie in einer gigantischen Waschmaschine, in der man hin- und her gewirbelt wird. Um das zu überstehen, braucht es neben der Fitness auch Sicherheitsausrüstung.
Also so etwas wie Airbags?
Ja, das ist vergleichbar mit den Airbag-Westen der Skifahrer. Wir Big-Wave-Surfer tragen sie unter dem Neoprenanzug, im Ernstfall ziehen wir eine Leine, dann bläst sich die Weste auf und verleiht dir mehr Auftrieb, um schnell wieder an die Oberfläche zu kommen. Wobei schnell relativ ist – ich war schon mal eineinhalb Minuten unter Wasser.
Wie viel wäre das Maximum?
Das ist in etwa die Grenze. In der Zeit sind ja schon zwei, drei weitere Brecher über einen hinweggerollt – mehr hält man nicht aus.
Und wenn Sie dann wieder an der Wasseroberfläche sind…
kommen hoffentlich die Jetski-Fahrer und ziehen einen raus. Jeder hat sein eigenes Team, das aufeinander abgestimmt ist – da kommt es auf jeden Moment an. Bevor die nächste Welle kommt, die ja auch den Jetskifahrer erwischen und verletzen kann, hat er höchstens 15 Sekunden. In der Zeit muss er dich erstmal in dieser riesigen, sich bewegenden Weißwasserfläche entdecken. Dann hinrasen, dich aufsteigen lassen, wegrasen.
Wir fassen zusammen: Die Sache ist extrem gefährlich – warum machen Sie das?
Es ist meine Leidenschaft. Mich fasziniert immer noch das Gefühl, eine Welle herunterzugleiten. Seit ich mit 16 Jahren nach Hawaii ausgewandert bin, wollte ich immer die größten Wellen der Welt surfen. Dafür habe ich damals alles gegeben und mache das heute noch.
Ist diese Zielstrebigkeit Ihre größte Stärke?
Vielleicht eine meiner Stärken, ja. Aber bestimmt eine meiner Charaktereigenschaften. Nach Hawaii wollte ich schon mit 13 Jahren, mit 16 haben es meine Eltern dann erlaubt. Da war mein Ziel zwar noch nicht konkret der Big-Wave-Weltrekord. Aber ich wusste: Ich muss nach Hawaii, und das habe ich geschafft.
Leicht war’s nicht, weder das Auswandern noch das Ankommen …
Nein, überhaupt nicht. Wenn du als 13-Jähriger deinen Eltern sagst, dass du auswandern wirst, sobald es geht, dann rufen die nicht „Juhu!“ Und auf Hawaii wird ein weißer Teenager aus Nürnberg auch nicht mit großem „Hallo!“ empfangen. Dort war ich zunächst ein Außenseiter. Erst als mich die Familie von Nelson Armitage sr. (ein legendärer hawaiianischer Clan) bei sich aufgenommen hat, haben die Locals begonnen, mich zu akzeptieren.
Sie haben Prof. Djukic und Hermann Maier erwähnt. Da gibt es ja auch Parallelen, Maier war im österreichischen Ski-Team auch lange ein Außenseiter. Hat diese Rolle als Außenseiter in Hawaii Ihren Ehrgeiz geweckt?
Nein, nicht wirklich, ich habe schon immer alles darangesetzt, meine Ziele zu erreichen. Von daher ist Hermann Maier eigentlich der einzige Sportler, den ich als eine Art Vorbild gesehen habe, er hatte seine große Zeit, als ich ein Teenager war. Aber grundsätzlich gehe ich immer meinen eigenen Weg, das ist mir das Wichtigste. Auch bei der aktuellen Weltrekord-Jagd. Klar freue ich mich über den Guinness-Rekord, aber vor allem darüber, dass ich diese gigantische Welle reiten konnte und darüber, dass ich das Ziel erreicht habe, das ich mir gesteckt hatte.
Was ist denn die Grenze nach oben – sind es die magischen 30 Meter?
Klar, das ist ein Ziel, und diese Zahl ist natürlich etwas, worüber man gut sprechen kann. Aber vor allem ist das Ziel, immer größere Wellen zu surfen, die sportliche Leistung zu steigern.
Was fehlt, um diese Grenze zu knacken – mental, physisch, technisch?
Vor allem technisch müssen wir Equipment haben, was das aushält, zum Beispiel die Geschwindigkeit. Und die Sicherheitssysteme müssen weiter verbessert werden – denn zu hundert Prozent wird man bewusstlos werden, wenn man auf einer 30-, 35-Meter-Welle stürzt. Da gehen auf jeden Fall die Lichter aus. Der Unterschied zu einer 25-Meter-Welle ist riesig. Jetzt sind wir bei 70 bis 80 km/h, bei 30 oder 35 Metern werden es wahrscheinlich gut 90 km/h sein – und wenn man wirklich mal an 40 Meter kommt wohl um die 100 km/h.
Die 40 Meter reizen Sie dennoch – trotz dieser Gefahr?
Mich reizt alles – aber mir geht es nicht um die Zahl 30, 35 oder 40, sondern um die Performance.
Thema Sicherheit – was fehlt da noch?
Die allgemeinen Standards. Im Moment darf jeder so surfen, wie er will. Auch deshalb musste ich schon zweimal Kollegen das Leben retten. In meinem Team haben wir zum Beispiel einen Funkkreis, das heißt, wir sind alle über Funk miteinander verbunden. Die Jungs auf der Klippe, die alles beobachten und wir im Wasser und auf dem Jetski. Solche Standards sollten alle haben.
Was kann ich von Sebastian Steudtner lernen – vor allem im mentalen Bereich?
Dass jeder seinen eigenen Weg gehen kann und erreichen kann, was er sich vornimmt. Ich meine, ich bin ein Typ aus Nürnberg, der den Big-Wave-Weltrekord aufgestellt hat, das zeigt doch alles. Wir sind zu viel mehr in der Lage, als wir eigentlich denken – wenn wir nicht aufgeben. Ich bin ja ein normaler Mensch, wenn ich das kann, kann das jeder.
Was ist Ihre größte Stärke?
Mikrobalance. Da war bei einem Test nur die Primaballerina von St. Petersburg besser… (lacht) Mikrobalance sind in diesem Fall minimale Ausgleichsbewegungen im Fuß – ich spüre also sehr genau, was das Surfbrett gerade macht. Im mentalen Bereich ist es sicher, dass ich niemals aufgebe. Und vielleicht mein Energiespeicher – der ist eigentlich nie leer …
Sie haben sich einen Sport ausgesucht, den es in Deutschland bis vor einigen Jahren quasi gar nicht gab. Wie sehen Sie den Stellenwert des Sports allgemein in Deutschland?
Es ist eine schizophrene Verbundenheit mit dem Sport. Da ist zum einen der extrem hohe Stellenwert nach außen, bei Olympia, Weltmeisterschaften etc. Aber nach innen ist es ein extrem geringer Stellenwert. In der Schule ist Sport ja fast nicht mehr existent. Dieses Missverhältnis interessiert mich, denn Sport ist so wichtig für die Entwicklung von Kindern, Sport ist viel mehr als nur Bewegung, er ist eine Lebensschule.
Gesellschaftlich ist der Sport also nicht mehr so wichtig, wie er sein sollte?
Ja, das finde ich schon. Und was mich wundert: wie wenig politisch der Sport geworden ist. Wie wenige Sportler ihre Power und Popularität nutzen. Stattdessen wird, wie bei Toni Kroos neulich, über Interview-Fragen diskutiert. Aber dass die Jungs sich mal für Themen einsetzen, die wirklich wichtig sind, so wie Ukraine, Katar oder anderes? Dass zum Beispiel ein Klitschko hunderte Millionen sammelt, aber die gesamte Fußballwelt still ist. Dass die alle so getrimmt sind, dass sie zu nichts mehr Stellung nehmen, das ist schade.
Interview: Klaus Heydenreich