Zwischen Hysterie und Verteufelung

von Redaktion

Vor 25 Jahren stieg Jan Ullrich zum Tour-Superstar auf – bis heute scheiden sich an ihm die Geister

VON PATRICK REICHELT

München – 25 Jahre danach haben auch die Macher der Tour de France für Jan Ullrichs großen Tag nicht mehr viel übrig gehabt. Die große Schleife ließ Andorra Arcalis anders als 1997 im wahrsten Sinne des Wortes links liegen. Stattdessen hetzten Tadej Pogacar und Kollegen am Donnerstag nach Hautacam, wo Ullrich 2000 gegen Dauerrivale Lance Armstrong fürchterliche Prügel bezog.

Das ist natürlich Zufall, passt aber irgendwie zum Dilemma der (deutschen) Sportöffentlichkeit. Wie geht man um mit der Geschichte von Jan Ullrich? Dieses Mannes, der sicher eines der größten Talente der Geschichte – aber eben wohl auch ein Doper war? Was sind sie wert, die großen Erinnerungen an diesen 15. Juli 1997, an dem Ullrich die Regentschaft über die Tour de France übernahm?

Keine Frage: Der Sturm des jungen Rostockers ins Gelbe Trikot der Tour gehört zur Kategorie jener Ereignisse, bei denen man sich noch Jahrzehnte später erinnert, wo man sie erlebt hat. Jene Momente, in dem Telekom-Teamchef Walter Godefroot seinen Youngster mit rudernden Armen von der Leine ließ. „Der König ist tot. Schauen Sie sich nicht um und geben Sie alles“, soll der Belgier Ullrich da zugerufen haben. Es waren die Worte, die Titelverteidiger Bjarne Riis aus der Führungsrolle hinaus und Ullrich hinein bugsierten. Und der ließ sich dann ja auch nicht lange bitten und fuhr die Konkurrenz in Grund und Boden.

Wobei nicht weniger bemerkenswert war, was die Sache in der Heimat auslöste. Noch am Abend widmete die ARD dem neuen Star eine Sondersendung. Als die Tour Tage später auf dem Weg nach Paris durchs Elsass rollte, pilgerten Zehntausende über die Grenze, um Ullrich zuzujubeln. Sogar die damalige Bonner Oberbürgermeisterín Bärbel Dieckmann war der Hysterie merklich verfallen. Beim Empfang der Zweirad-Helden himmelte sie Ullrich geradezu an und sagte, er stehe „in einer würdigen Reihe mit Adenauer, de Gaulle, Gorbatschow und dem Papst“.

Klar, auf dem Fahrrad hat sich so ziemlich jeder schon versucht. Man fühlte sich den Helden nahe. Und der damals 23-Jährige, der aus nicht ganz einfachen Verhältnissen zu dem großen Ausnahmesportler aufgestiegen war, war nun der erste Deutsche, der mit der Tour den größten Rad-Mythos knackte. Es war beschlossene Sache, dass er das wichtigste Rennen der Welt nun dauerhaft dominieren würde.

Tat er nicht. Bis er 2006 ebenso rasant abstürzte, wie er knapp ein Jahrzehnt zuvor aufgestiegen war. Im Zuge des Fuentes-Skandals wurde Jan Ullrich gemeinsam mit seinem Mentor Rudy Pevenage und dem aus der Tour ausgeschlossen, ein Jahr später beendete er auch offiziell seine Karriere. Man muss nicht darüber spekulieren, was wohl passiert wäre, wenn auch er wie viele Kollegen reinen Tisch gemacht hätte. In der öffentlichen Wahrnehmung war „unser Ulle“ verstoßen, ins Halbseidene gerückt. Für die, die ihn eben noch als Star herumreichten, war er nun wie tot. Von der Hysterie bis zur Verteufelung – bei Ullrich waren die Ausschläge in beide Richtungen des Guten zu viel.

Aufstieg und Fall des Mecklenburgers bis hin zum, unter diesen Umständen letztlich wohl programmierten menschlichen Absturz in schwerste Alkohol- und Drogenprobleme – es ist eines jener Dramen, die der Sport eben auch schreibt. Der Journalist Sebastian Moll hat sie in seinem lesenswerten Buch „Ulle“ (Delius Klasing) sehr hintergründig erklärt. Bis hin zu der Feststellung, dass Ullrich den Weg zurück ins Leben heute gefunden hat.

Und das ist eine große Leistung. Ganz egal, wie hoch man die sportliche Sternstunde in Andorra bewerten will – 25 Jahre danach.

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