„Die Ganoven haben alle aufgegeben“

von Redaktion

Der Dorfpolizist Lasse Viren wurde zum Weltstar – Seine aufregenden Münchner Rennen

Einer der ganz großen Namen von München 1972: Lasse Viren. Ist natürlich einprägsam – doch zu Beginn der Spiele war der 23-jährige Finne nur einem Fachpublikum bekannt. Bei der Europameisterschaft 1971 in Helsinki war er Siebter über 5000 und Siebzehnter über 10 000 Meter geworden, in München gewann er über beide Strecken Gold. 1976 in Montreal wiederholte er das Double. Wir sprachen mit dem viermaligen Olympiasieger. Seine Ehefrau Päivi, mit der Lasse Viren seit fast 50 Jahren verheiratet ist, half bei der englisch-finnischen Übersetzung.

Herr Viren, viele, die die Wettbewerbe in München 1972 verfolgt haben, werden sich an den 10 000-Meter-Lauf wegen Ihrer unglaublichen Geschichte erinnern: Sie stürzten knapp vor der Hälfte der Distanz, überschlugen sich, standen auf, holten das Feld ein und gewannen Gold in Weltrekordzeit. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie in den Crash auf der Gegengeraden verwickelt waren?

Ich habe an nichts anderes gedacht als: Steh auf, laufe und bringe das hier zu Ende.

Das Olympiastadion war voll, es herrschte ein Höllenlärm, erst recht nach dieser Szene. Hat die für ein Leichtathletik-Event ungewöhnlich besetzte Arena sie gepusht?

Ich habe natürlich bemerkt, dass das Stadion voll mit Menschen war. Doch ich habe den Lärm nicht wahrgenommen, dafür war ich viel zu konzentriert. Ich musste unserem Plan folgen und auch darauf achten, wie sich meine Konkurrenten taktisch verhalten. Damit war ich beschäftigt.

Favorit waren Sie für die Öffentlichkeit als einer der Jüngsten im Feld nicht, und über die 5000 Meter haben sich alle Augen auf den von den US-Medien gehypten Steve Prefontaine gerichtet. Haben wenigstens Sie selbst gespürt, dass Sie bereit wären für etwas ganz Großes in München?

Mein Trainer Rolf Haikkola und ich hatten einen Plan ausgearbeitet, und ich fühlte mich schon in ganz ansprechender Form. Doch wir haben keine konkrete Zielsetzung formuliert, sondern es einfach gehalten: Ich sollte so gut laufen, wie es nur ging.

In der Literatur wird der neuseeländische Coach Arthur Lydiard als Vater des finnischen Laufwunders genannt. Lydiard war zu dieser Zeit auch als Nationaltrainer für die finnische Langstrecken-Mannschaft angestellt. Welchen Anteil an Ihrem Erfolg hatte er?

Auf mein Training hatte Lydiard nahezu gar keinen Einfluss, denn ich hatte meinen eigenen Trainer. Aber als Arthur Ende der 60er-Jahre zu uns nach Finnland kam, hat er sehr viele gute Ideen für den Trainingsaufbau mitgebracht und vielen unserer Läufer den Glauben vermittelt, dass man durch hartes Training gewinnen und Talent als wesentlichen Erfolgsfaktor reduzieren kann. Selbstbewusstsein, Power – das war Lydiards Vermächtnis. Das habe ich bemerkt, auch wenn wir aufgrund meier Konstellation wenige Schnittpunkte hatten.

Bei Ihrem Training haben Sie mehr auf den Wald als auf die Bahn gesetzt, also auf das Prinzip des Fahrtenspiels, bei dem der Läufer sich nach den Gegebenheiten der Umgebung richtet, Höhenmeter macht, Tempi variiert, Hindernisse überspringt, ihnen ausweicht.

Im Sommer und Herbst bin ich viel in den Wäldern und in Parks gewesen, um zu trainieren. Im finnischen Winter war das aber nicht möglich; da hat man mich dann auf den Straßen angetroffen.

Skilanglauf?

In der U 20-Klasse habe ich da auch an Wettkämpfen teilgenommen, und dieser Sport hat mit sehr gefallen. Aber über 20 hieß es: Konzentration aufs Laufen; die Bewegung ist ja eine etwas andere.

Zwanzig Jahre vor Ihrer Zeit setzte Emil Zatopek Maßstäbe. Der Tscheche lief bei den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki die 5000, 10 000 Meter und den Marathon. Er gewann Gold auf allen drei Strecken. Bei Ihrem Trainingspensum und Ihrer Form hätten Sie die 42,195 Kilometer noch anhängen können. Ging aber nicht. . .

In München waren 5000 und Marathon am letzten Wettkampftag der Leichtathletik gleichzeitig. Der Marathon wurde gestartet, die Läufer waren aus dem Stadion, dann ging unser Lauf los. Vier Jahre später in Montreal war es dann so entzerrt, dass ich auch am Marathon teilnehmen durfte (Viren wurde Fünfter, d. Red.).

Die 5000 Meter von München gelten als das aufregendste Rennen jemals. Ein epischer Kampf von drei Läufern, Ihnen, Steve Prefontaine, Mohamed Gammoudi, ein wahres Gemetzel auf den letzten zwei Runden. Haben Sie den Lauf auch als außergewöhnlich empfunden?

Ich würde die 5000 von München mit denen von Montreal vergleichen. Die waren ebenfalls eng und für mich noch härter wegen der Neuseeländer Dick Quax und Rodney Dixon, die aufeinander angespielt und die Favoriten waren. Um auf München zurückzukommen: Da fühlten sich die 5000 Meter für mich leichter an, weil ich die 10 000 gewonnen hatte; ich konnte befreit laufen. Der Zeitplan andersherum, also die 5000 vor den 10 000 – und es hätte ganz anders ausgehen können. Die fünf Kilometer sind ein sehr viel störanfälligerer Wettbewerb als die längere Strecke. Die 5000 sind einfach schwieriger.

Ihre Eltern erzählten 1972 im finnischen Fernsehen, dass sie nach Ihrem ersten Gold unabhängig voneinander vom zweiten Sieg geträumt hätten.

Mir haben sie das nicht erzählt. Eigentlich überhaupt niemals.

Sie waren Polizist in Ihrem Heimatdorf Myrskylä. 1972 kehrten Sie als große nationale Figur zurück, als der neue Paavo Nurmi. Wie lange sind Sie noch in Ihrem Beruf geblieben?

Bis September 1980 bin ich Polizist gewesen.

Hat jemals irgendein Gauner versucht, vor einem zwei- und später viermaligen Olympiasieger davonzulaufen?

Ja, das ist tatsächlich passiert, einige Male sogar. Aber als sie bemerkt haben, wer der Polizist ist, der sie verfolgt, wussten sie, dass sie nicht entkommen werden. Die Ganoven haben alle aufgegeben.

Das zweite berühmte Bild von Ihnen neben dem Sturz von 1972 ist die Ehrenrunde mit Ihren Schuhen in der Hand, das war 1976. Man konnte die Marke Asics gut erkennen. Das liegt lange zurück. Also ehrlich: War das wegen einer Blase am Fuß – oder vielleicht doch ein Versuch, das Werbeverbot im Amateursport zu umgehen?

Ich hatte absolut keinen Plan, das zu machen. Mich haben die Spikes nach dem Rennen einfach so sehr gedrückt, dass meine Füße angeschwollen waren. Deswegen habe ich die Schuhe sofort hinter dem Ziel ausgezogen und hochgehalten. Ich wollte barfuß sein. Eine Werbeaktion haben andere hineininterpretiert.

Heute hat Ihr Land vor allem Eishockeystars. Wie geht’s dem guten alten Langstreckenlauf ?

Die Situation ist nicht sonderlich gut heutzutage. Aber auch ohne herausragende finnische Läufer: München sollte sich auf die Europameisterschaft diesen Sommer 50 Jahre nach den Olympischen Spielen freuen.

Interview: Günter Klein

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