Demnächst feiert Wolfgang Mager seinen 70. Geburtstag. Seinen 20. hatte er in München im Olympischen Dorf verbracht, kurz danach wurde er Olympiasieger im Rudern, im Zweier ohne Steuermann, für die DDR. Obwohl er den Osten nie verließ – München wurde zur Glücksstadt für seine Familie.
Herr Mager, für den Sport, in dem Sie erfolgreich waren, wurden Sie, wie man heute sagen würde, gecastet. Sie meldeten sich 1967 auf einen Aufruf der DDR-Sendung „Zwischen Frühstück und Gänsebraten“ – da wurden große Jungs fürs Rudern gesucht.
Die Sendung haben auch viele im Westen geschaut, sie lief immer am ersten Weihnachtsfeiertag. Das war eine Kultsendung. So etwas wie „Wetten dass…?“ mit Gottschalk. Ich war eigentlich ein Leichtathletik-Allrounder und sollte nach Dresden an die Sportschule gehen, doch mein Talent wurde zu spät erkannt. Ich sollte dann zum Fußball zu Dynamo Dresden, doch es gab keinen Internatsplatz mehr. Mein Vater sagte: „Du hast mich in Aufruhr versetzt, du bewirbst dich jetzt bei den Ruderern.“ Unter Tränen habe ich den Brief geschrieben, weil das Papier nass wurde, musste ich ihn ein zweites Mal schreiben. Dann wurden wir nach Leipzig eingeladen, 250 Jungs waren da. Die Tests waren so intensiv, dass wir uns wegen des Muskelkaters am Treppengeländer hochziehen mussten. Ein Jahr später begann das Training in Leipzig.
1968, Olympiajahr.
Als ich anfing, habe ich bei den Spielen in Mexiko den Dresdener Vierer gesehen und mir gesagt: Da willst du auch mal hinkommen. Zwei Jahre später haben Siegfried Brietzke und ich im Zweier ohne Steuermann die Olympiasieger Jörg Lucke/Heinz-Jürgen Bothe geschlagen.
Das war wohl eine sehr harte Ausscheidung, 1972 überhaupt nach München zu kommen.
Oh ja, wir hatten vier, fünf Qualifikationen. Bei uns im Osten musste man alles gemeinsam machen, wir sind im Bus ins Höhentrainingslager nach Österreich gefahren, und dort sind ständig Weltmeister gegen Olympiasieger angetreten. Etwa der Zweier mit Steuermann mit zehn Sekunden Vorsprung gegen den Zweier ohne oder der Doppelvierer gegen den Achter. Das war die alte Schule. Heute bereiten sich die Bootsklassen getrennt vor.
Sie haben am 24. August Geburtstag, wurden in München 20.
Mit 19 bin ich ins Olympische Dorf gekommen – und in die große Welt. Bis 16 war ich nur in meinem kleinen Dorf in der Oberlausitz gewesen, 1972 wurde ich in diesen wuselnden Sportkessel geworfen, das war etwas ganz Besonderes. Wir konnten uns mit japanischen Turnerinnen und amerikanischen Basketballern fotografieren lassen. Ich habe für mich gedacht: Es ist alles so weltoffen, so freundschaftlich hier, die Menschheit versteht sich doch. Dazu der 20. Geburtstag – das war einschneidend.
Was passierte zum Geburtstag?
Das war nicht ausufernd. Die Italiener haben uns eingeladen, sie hatten einen eigenen Spaghetti-Koch dabei, und es gab ein Glas Rotwein. Das ganze Flair hat mir viel mehr gegeben als eine große Party. Wenn man Geburtstag hatte, erhielt man auch eine Einladung von Walter Tröger, dem Bürgermeister des Dorfs, als DDR-Sportler durfte man aber nicht hingehen. Es gab einen Blumenstrauß und eine silberne Erinnerungsmedaille mit der Sportart, Rudern, darauf.
Im Rudern trumpfte die DDR auf, holte Medaillen mit allen sieben Booten. Dreimal gab es Gold.
Uns wurde vorgehalten, dass wir in München gedopt hätten. Doch da kann ich meine Hand ins Feuer halten. Wir haben schon deswegen nicht gedopt, weil die Bild-Zeitung sich sonst gefreut hätte. Bei uns war alles sauber. Unsere Vorbereitung war wie die der Bundesrepublik auch: Wir gingen ins Höhentrainingslager, das Blut reicherte sich dort mit Sauerstoff an. Entscheidend für unsere Erfolge ist das Sichtungssystem gewesen. Im Sportunterricht der Schulen waren Sichtungstrainer der Sportclubs unterwegs, und so mancher Volkspolizist meldete Talente an Sportclubs der Polizei weiter. Mich musste eh keiner zu was zwingen, ich war immer auf Sportstätten zu finden.
Der Westen holte eine Goldmedaille – durch den Bullenvierer vom Bodensee, der seiner Favoritenrolle gerecht wurde,
Unser Rennen war direkt das danach. Die Funktionäre haben uns ins Gebet genommen: Millionen würden vor dem TV-Gerät sitzen und wir sollten daran denken, dass die Arbeiter der DDR es uns ermöglicht hätten, dass wir in diesem Boot fahren dürfen. Es war die Zeit des Kalten Krieges, man hat uns vieles erzählt, und ich war mit meinen 19, 20 Jahren nicht so weit, dass ich die Dimensionen begriffen hätte. Da ist schon viel gehetzt worden.
Wie empfanden Sie die Stimmung an der Regatta in Oberschleißheim?
Unglaublich, einmalig. Das hat es im Rudern nie mehr gegeben. Beide Seiten der Strecke waren voller Menschen. Auf der Stehplatzseite haben sie die Zäune eingedrückt und sind reingegangen, aber ganz gesittet. Als wir vorne lagen, riefen alle „Deutschland, Deutschland“, da spürten wir, so etwas wird es nie mehr geben. Es war mir ganz egal, ob ich aus der DDR oder BRD komme. 2017 war ich auf einer Fahrradtour durch Deutschland in Oberschleißheim, habe mich mit meinem Sohn dort getroffen, wir sind eine Runde mit den Stand-Up-Paddleboards gefahren und haben am Siegersteg angelegt. Wie 1972.
1976 wurden Sie nochmals Olympiasieger, das war im Vierer, 1980 haben Sie aufgehört mit Rudern. Wie ging es weiter?
Ich hatte Diplomsportlehrer an der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig studiert, man bot mir an, Stellvertreter von Manfred Ewald (höchster Sportfunktionär der DDR, d. Red.) beim Deutschen Turn- und Sport-Bund der DDR zu werden, das habe ich abgelehnt. Ich wollte ein ganz normaler Lehrer sein, das hat man mir verwehrt, ich war dann Fußballtrainer. Nach der Wende habe ich noch Heilpädagogik studiert, damit ich mit Kindern arbeiten kann, und bin Erzieher in einem Heim geworden. Freunde von mir sagen, ich hätte fünf Leben gelebt. Ich wollte 2020 mit dem Fahrrad von Wladiwostok nach Dresden fahren, eine Fahrt für den Frieden, ich hatte Sponsoren und alles organisiert – dann wurde ich von einem Transporter angefahren, hatte einige Brüche, und Corona kam auch dazwischen.
München hat Sie nie losgelassen.
Meine Kinder sind nach der Wende nach München gezogen, meine 26-jährige Enkelin arbeitet in Unterhaching im Rathaus. Am 26. September 2019 kamen noch zwei Enkel-Nachzügler, Max und Teo. Sie waren Frühchen und hätten das unter normalen Umständen nicht überlebt. Ich war selbst im Krankenhaus dabei, in der Kinderklinik Dritter Orden. Es hing am seidenen Faden. Ich habe im Stillen gehofft: Olympia ist gut für mich ausgegangen, in München hatte ich immer Glück. Das schaffen wir, das schaffen die Jungs. Jetzt werden sie bald drei Jahre alt und wuseln herum. Dr. Andreas Rößlein als behandelnder Oberarzt, der Chef, Professor Jochen Peters, und das ganze Personal haben sich sehr gekümmert, dafür wollte ich noch einmal ganz lieben Dank sagen.
Interview: Günter Klein