Weil ja gerade die Feierlichkeiten zum 50-Jährigen der Olympischen Spiele von München 1972 laufen und manche(r) sich im Internet wehmütig Videos vom goldenen Leichtathletik-Sonntag der Deutschen (drei Siege binnen einer Stunde) anschaut – das war schon eine komplett andere Zeit damals, auch wenn die Bilder noch so frisch und präsent wirken. Die zentrale Sportart der Spiele offenbarte wenig Diversität, selbst die Langstrecken waren eine ziemlich weiße Angelegenheit. Ein starker Afrikaner wie John Akii-Bua aus Uganda, der über die 400 Meter Hürden gewann, war eine große Ausnahme im Teilnehmerfeld in München.
Wie sehr sich die Leichtathletik verändert hat, zeigte die nun zu Ende gegangene WM 2022 in Eugene in den USA. Der Weltverband wies in seinem Resümee auf eine Besonderheit hin: Noch nie verteilten sich die Goldmedaillen auf so viele Nationen wie diesmal. 29 Länder stellen eine oder mehrere Weltmeisterinnen, Champions oder Staffel-Teams. Glanz fällt auch auf Grenada, Bahamas, Marokko, Venezuela.
Ist Leichtathletik endgültig zum Weltsport geworden, zum demokratischsten Sport, in dem der Mensch seine Grundtalente abruft? Schnell oder ausdauernd laufen, weit oder hoch springen und einen Gegenstand kraftvoll werfen – das sind Gaben, die sich überall entfalten können, oder?
Die breite Streuung an Medaillen bestätigt diese These. Doch das Wesen der Leichtathletik ist eben auch, dass sie ein Sammelbecken für verschiedenste Fähigkeiten darstellt; ein 120 Kilo schwerer Kugelstoßer, der für einen Augenblick Maximalkraft abrufen muss und eine 45 Kilo leichte 10 000-Meter-Läuferin, die über eine halbe Stunde taktiert, wie nahe sie am Anschlag sein kann, haben eigentlich keine Gemeinsamkeit. Und so teilen sich die Kontinente und Kulturen die einzelnen Bereiche auf – das macht die Leichtathletik zur Ansammlung von Nischen, die von Spezialisten besetzt sind.
Klassisch breit aufgestellt sind nur noch die USA. Mit 33 WM-Medaillen, 13 in Gold, beherrschen sie die Szenerie – zumal auch viele Medaillen anderer Nationen in den amerikanischen Colleges und Universitäten gemacht werden. Was zeigt: Ohne starke Strukturen bleibt ein Aufstieg schwer. So ist die Leichtathletik gewiss bunter geworden – aber noch immer nicht der Sport für alle.
Guenter.Klein@ovb.net