London – Auf den ersten Blick mag Sarina Wiegman mit ihrer Brille viele an die Lehrerin erinnern, die nach einer verhauenen Klassenarbeit besonders streng schaute. Und mahnte, sich beim nächsten Mal besser anzustrengen. Wenn Englands Nationaltrainerin bei der EM zu den Pressekonferenzen erschien, konnte aber von einer oberlehrerhaften Attitüde keine Rede mehr sein. In erster Linie war die Niederländerin damit beschäftigt, die überbordende Erwartungshaltung zu dämpfen. Alle sollten sich doch mal ein bisschen entspannen. Ihr Team trennt nur noch das Finale gegen Deutschland (Sonntag 18 Uhr/ARD) vom Triumph, der dafür entschädigen soll, was den Männern vor einem Jahr in Wembley verwehrt blieb: beim Heimendspiel den EM-Pokal einzusacken.
Im Wembley-Park gibt es anders als 2021 keinerlei Zuschauerbeschränkungen. Und wohl auch weniger Selbstzweifel. Englands Verband (FA) hat die Niederländerin schließlich auf die Insel gelockt, weil sie eben genau weiß, wie titeltaugliches Coaching bei einem Heimturnier geht: Bei der EM 2017 verwandelte sich der Endspielort Enschede in eine „Oranje“-Partymeile, in der Wiegmann auch am Ende wie ein nüchterner Fels in der Brandung wirkte. Im Gegensatz zu ihren Landsleuten hatte sie Vivianne Miedema, Lieke Martens und Co. die Sensation ja zugetraut.
Nun verfolgen Lucy Bronze, Leah Williamson und Co. die gleiche Mission – und ihre Matchpläne sind wieder von klaren Aufgabenverteilungen in einer fixen Stammelf geprägt. Nach dem Gegner richtet sich das Team am allerwenigsten. Wiegman will das so. Wer Beth Mead (sechs EM-Tore) und Lauren Hemp an den Flügen sieht, entdeckt eine Spielidee alter holländischer Fußballschule mit einer klassischen Mittelstürmerin.
Mittelfeldspielerin Keira Walsh sagte kürzlich: „Unsere Mentalität dreht sich nur noch darum, dass das Team gewinnt. Keine schmollt mehr, wenn sie ausgewechselt wird. Die Atmosphäre ist weniger angespannt.“
Nicht einmal elf Monate haben dem „Superhirn“ (The Independent) genügt, um aus den „Lionesses“ wirklich das zu machen, was sich hinter ihrem Namen verbirgt: ein Rudel hungriger Löwinnen, die ihre Beute so lange jagen, bis sie erlegt ist. Die Fußballlehrerin gilt als Workaholic – lacht aber viel häufiger als bei der EM vor fünf Jahren. Mit Genuss saugt sie die Hingabe ihrer Wahlheimat zum Fußball ein. Millie Bright, die wuchtige Abwehrchefin, hatte die Nationaltrainerin nach dem Kraftakt im Viertelfinale gegen Spanien (2:1 n.V.) freudig in die Luft gestemmt. Die Szene aus dem Falmer Stadium von Brighton lief später im Fernsehen rauf und runter. Weil sie viel über die enge Verbindung zur Mannschaft aussagt. Die Allianz soll nun nach 19 Länderspielen ohne Niederlage in der Krönung münden.
Wiegmans Weg war ein beharrlicher. Sie musste sich als Kind in Den Haag die Haare kurz schneiden, damit sie mit ihrem Zwillingsbruder Fußball spielen durfte. Bald ging sie als talentierte Fußballerin an die Universität North Carolina. Vor allem die Gewinner-Mentalität, aber auch die Professionalität des Umfelds beeindruckten die 104-fache Nationalspielerin derart, dass sie dies unbedingt auch in der Heimat verankern wollte, nachdem sie im Anschluss an eine Ausbildung zur Sportlehrerin und der Geburt zweier Kinder hauptberuflich als Trainerin arbeitete. Dass sie in einer Assistentenrolle bei Sparta Rotterdam auch als erste Frau im Männerfußball tätig war, zeigt, wie viel sie sich zutraut.