München – Am Ende saßen Beide auf der Tartanbahn im Münchner Olympiastadion und umarmten sich. Erschöpft, aber überglücklich. Niklas Kaul, der neue Europameister, und Simon Ehammer, Silbermedaillengewinner. Bis zur letzten Disziplin hatten es die Zehnkämpfer in einem packenden Duell spannend gehalten. Und dann flog Kaul über die 1500 Meter allen davon. „Ich hoffe, es war für euch so schön wie für mich. München wird immer ein Platz in meinem Herzen haben“, sagte er.
Der Vormittag hatte dramatisch begonnen. Arthur Abele, der hier in München seinen Abschied feiert, wurde nach einem angeblichen Fehlstart über die 110 m Hürden disqualifiziert. Der Europameister von Berlin 2018 wischte sich die Tränen mit dem verschwitzten Shirt weg. Dann doch die Wende: Der eingelegte Protest war erfolgreich, Abele durfte weitermachen und lief die 110 m Hürden eben noch mal. Alleine, aber stimmgewaltig angetrieben durch die Zuschauer auf den Rängen. „Ich bin nervlich total im Arsch“, sagte der 36-Jährige, der sogar darüber nachgedacht hatte, alles einfach abzubrechen.
Kaul hingegen gelang mit 14,45 Sekunden über die 110 m Hürden ein reibungsloser Start. Und dann patzte auch noch Ehammer, nur 34,92 Meter mit dem Diskus. Kaul konnte das aber nicht ausnutzen, warf selbst 41,80 Meter (Persönliche Bestleistung 49,29). „Ich hatte überhaupt kein Gefühl mit dem Diskus“, sagte der 24-Jährige. Generell sei der Vormittag oft nach dem Motto „wenig angreifen, viel durchkommen“ verlaufen. Vor der Nachmittagspause gelangen im Stabhochsprung 4,90 Meter. Ordentlich, aber eben auch nicht mehr.
ARD-Experte Frank Busemann (Silbermedaillengewinner im Zehnkampf bei den Olympischen Spielen von Atlanta 1996) orakelte, Kaul müsse nun den Speer 17 Meter weiter als Ehammer werfen und zudem noch mal 33 Sekunden schneller sein im abschließenden 1500-Meter-Lauf.
Und der Weltmeister von Doha 2019 lieferte ab. Mit seinem ersten Versuch schleuderte Keul den Speer gleich mal auf 70,98 Meter – Saisonbestleistung und Gänsehautstimmung im Olympiastadion. Ehammer war nur bis 53,46 Meter gekommen. Und die Stimmung wurde noch besser: Letzter Versuch beim Speerwerfen für Kaul, die Fans erhoben sich. Der Deutsche dankte es mit 76,05 Metern. „Oh, wie ist das schön“, schallte es durch das Stadion. Kaul ging aus sich raus, trommelte sich auf die Brust, die Botschaft vor dem Finale: Jetzt bin ich voll da!
Die Ausgangslage vor den entscheidenden 1500 Metern: 27 Sekunden Vorsprung auf Ehammer benötigte Kaul, 27 Sekunden für den Europameistertitel daheim.
Und dann das: kein Signal auf der Startpistole, bei der elektronischen Zeitmessung hakte es. Die besten Zehnkämpfer Europas standen bereit – und die Technik versagte. Mit ein paar Minuten Verspätung und einer Extraportion Adrenalin ging es auf die Bahn.
Der gebürtige Mainzer Kaul hatte darauf gehofft, dass ihn das Publikum durch den zweiten Tag, seinen Sahnetag im Zehnkampf trägt. Und die rund 40 000 standen, schrien trugen ihn. Kaul übernahm schnell die Führung, Ehammer lief am Ende des Feldes.
Mit einer persönlichen Bestleistung, 4:10,04, absolvierte Kaul die 1500 Meter so schnell wie noch nie in seinem Leben. Ehammer kam 38 Sekunden später ins Ziel. „Emotional ist das noch mal wert als mein WM-Titel. Über die 1500 Meter bin ich einfach nur geflogen. Es war der Wahnsinn“, sagte König Kaul.