Es hatte den Charakter eines Gesetzes: Schnellster Mann der Welt ist ein Amerikaner. Lediglich 1960 gab es durch den Deutschen Armin Hary in Rom eine Abweichung – sonst galt das Prinzip: Den 100-Meter-Olympiasieger stellt die USA. Doch 1972 zerlegte sich die große Sprintnation selbst: Eddie Hart und Rey Robinson, beide bei den US-Trials (handgestoppte) 9,9 Sekunden gelaufen, verpassten, weil ihr Trainer einen veralteten Zeitplan hatte, um wenige Minuten ihren Zwischenlauf, Robert Taylor, der Dritte im Bunde, schaffte es gerade noch rechtzeitig in den Startblock. Doch im Finale hatte er gegen den überraschend starken Valery Borsow aus der UdSSR keine Chance – und die Welt der Leichtathletik feierte einen „weißen Blitz“. Borsow war so überlegen, dass er schon vor der Ziellinie die Arme hochreißen konnte – auch wenn seine (elektronisch festgehaltenen) 10,14 Sekunden keine außergewöhnliche Zeit waren. Sechster wurde übrigens ein bundesdeutscher Athlet: Jobst Hirscht (2. v. l.). Borsow, verheiratet mit Starturnerin Ludmila Turischtschewa (zweimal Gold in München), gewann auch die 200 Meter klar – in exakt 20 Sekunden. Die Amerikaner hatten den damals 22-Jährigen unterschätzt: Er trainierte nach ganzheitlichen Methoden, achtete streng auf die Ernährung (was er nach der Karriere komplett aufgab), arbeitete an seiner Muskulatur.
Valery Borsow wurde Politiker, hatte in der UdSSR sogar ein Ministeramt, in der Postsowjetzeit saß er im ukrainischen Parlament. Heute ist er Mitglied des IOC. Zu den Feierlichkeiten von München 1972 im Juli war er eingeladen, musste aber aufgrund des Kriegs in der Ukraine absagen. gük/Foto: Imago/Sven Simon