6075:1095 – das war das Verhältnis. Männliche zu weibliche Teilnehmer bei Olympia 1972.
Frauen durften vieles nicht im Sport: Die Männer liefen Marathon, für die Frauen waren 1500 Meter die längste Strecke. Männer betrieben Zehnkampf, Frauen traten in nur fünf Disziplinen an. Sie durften keinen Hammer werfen, nicht über Hindernisse gehen noch drei- oder stabhochspringen.
Männer spielten Fußball, Basketball, Handball, Wasserball, Hockey – Frauen waren nur im Volleyball zugelassen (die Herren natürlich auch).
Fechten, Ringen, Boxen, Judo, Segeln, Rudern, Kanuregatta, Moderner Fünfkampf – alles tabu. Eine andere Zeit: Frauen sollten nicht für Kampf stehen, sondern für Anmut. Obwohl es auch vor fünfzig Jahren herausragende Athletinnen gab: Heide Rosendahl, deren Resultate im Weitsprung (6,84 Meter) sie auch noch heute in jedes Finale brächten, Hildegard Falck, die mit ihrer 800-Meter-Siegeszeit von 1:58,6 Minuten die Europameisterschaft 2022 (1:59,04) gewonnen hätte. Renate Stecher, die Sprinterin – welche Dynamik. Ludmila Bragina schloss jeden ihrer drei 1500-Meter-Läufe mit Weltrekord ab. Oder die Turnerinnen, die am Stufenbarren, dessen Holme ganz anders eingestellt waren als jetzt, jeden Schmerz ertrugen, wenn sie sich mit der Hüfte ums Holz wickelten. Karin Janz aus Ost-Berlin, die souverän jeden Abgang stand, ein Inbegriff der Trainingsdisziplin.
Das Turnen sandte jedoch auch die Zeichen der Zeitenwende im Frauensport aus. Gegenüber Mexiko 1968 hatte es sich frappierend entwickelt. Zuvor wurde das Turnen noch über die Eleganz der Bewegungen reifer Frauen wahrgenommen, Star dieser Ära war Vera Caslavska, 1968 mit 26 Jahren viermalige Olympiasiegerin. 1972 wirbelte die 17-jährige Olga Korbut, dass die Olympiahalle tobte vor Begeisterung.
Dass Frauen leistungsstärker wurden, stieß jedoch auf gesellschaftlichen Argwohn. Vor den Spielen in München mussten alle weiblichen Teilnehmer zum „Sextest“, wie die Prozedur plakativ genannt wurde. Etwas weniger reißerisch: Geschlechts-Bestimmung. Es ging um die Chromatine: Hatte auch jede Frau ein XX-Paar? Verhindert werden sollte eine Chancenungleichheit im Wettbewerb – wenn männlich wirkende Frauen an den Start gingen.
Shane Gould durchlebte eine unruhige Woche in München, ehe das Testergebnis vorlag. Die Australierin, die fünf Medaillen gewinnen sollte, hatte Identitätszweifel: „Ich war 15 und schwamm genauso schnell wie die 16-jährigen Jungs in meinem Club. War ich wirklich eine Frau?“ Das Ergebnis und die Startfreigabe erleichterten sie – doch die Unsicherheit hing ihr Jahre nach. „Jetzt ist es wohl bewiesen“, meinte sie, nachdem sie zum vierten Mal ein Kind zur Welt gebracht hatte.
Dass Athletinnen an den Start gingen, die bereits Mutter waren, galt vor fünfzig Jahren auch noch als Besonderheit. Gängige Vorstellung war, dass eine Rolle in der Familie und Höchstleistungssport sich ausschlössen. Und es bestanden Zweifel, ob diese nach einer Niederkunft und Trainingspause überhaupt möglich wären.
Doch dann gewannen junge Mütter Medaillen: Ilona Gusenbauer hatte schon 1971 als Mutter Weltrekord im Hochsprung aufgestellt, in München gewann die Österreicherin Bronze. Im Weitsprung ging Silber an die Bulgarin Diana Yorgova, die ein Jahr zuvor entbunden hatte. „Ich konnte nicht sehen, dass sie einen Nachteil hatte“, sagte Heide Rosendahl, die gerade einen Zentimeter weiter sprang.
Für Diana Yorgova war klar, dass nichts sie von der Teilnahme an den Olympischen Spiele in München würde abhalten können. Sie fühlte sich Olympia auf besondere Art und auf familiäre Weise verbunden: 1964 in Tokio hatten sie und der bulgarische Turner Nikola Prodanov im Olympischen Dorf geheiratet.